Ach was, damals, kurz nach dem Krieg, waren die meisten Leute zwangsläufig mager. Auch die Kinder. Das wüsste doch ihr Mann besser als sie.
Klaus hatte seinen Blick schnell wieder von ihrem Zick-Zack-Scheitel gelöst, schaltete das Radio aus und brummte: „Was denn eigentlich für Schüsse? Ich denke, der Krieg war schon seit Monaten aus und vorbei?“
Sie hörte seine Stimme und konnte sich nicht erklären, wieso sie ihm mit einem Mal dankbar war für sein Interesse, dafür, dass er ihr offensichtlich das Erzählen erleichtern wollte.
Die Zweifel blieben trotzdem. Sie fragte sich, mit welchem Recht sie ihm denn eigentlich einen Teil ihrer eigenen Last aufbürden durfte.
Anderseits war es war wohl gerade die Aussicht, einen Teil ihrer Last loszuwerden, die sie zögernd weiter sprechen ließ.
„Hm, das schon, der Krieg war vorbei, aber dort wurde eben auch im Sommer noch geschossen, sie führten wohl nach den furchtbaren Erlebnissen des Krieges noch ihren eigenen Feldzug. Noch viele Monate.“
Jenen vom damaligen und aus dem englischen Exil zurückgekehrten Präsidenten Bene? angeregten und für recht befundenen Rachefeldzug ... aber das behielt sie für sich.
„Jedenfalls soll meiner Mutter bei den Schüssen vor Schreck ein Wäschestück aus der Hand gefallen sein ...“
4. Heißer Sommer in diesem Jahr
1945. Es war einer dieser lichtblauen, flimmernden Sommertage, an denen kein Wölkchen den strahlend blauen Himmel zu stören wagte. So ein Tag, der bei den meisten Menschen Freude und Dankbarkeit auslöste.
Am 26. Juli 1945 in Bruch, Bezirk Brüx, wahrscheinlich ebenso wie anderswo auf der Welt und zu anderen Zeiten.
Aber es gab nicht bei allen nur Freude und Dankbarkeit über das von den meisten herbeigesehnte Kriegsende. Es gab bei vielen auch Schmerz und Trauer, Wut und Zorn über verlorene Söhne, Väter, Ehemänner und Brüder. Bei dem einen oder anderen wird es auch den Wunsch nach Vergeltung gegeben haben … und manchmal nicht nur den Wunsch …
Hella fand, dass sie keinen Anlass zum Trauern hatte. Ihr Vater und ihr Schwiegervater lebten, ihre beiden Brüder waren schon im Säuglingsalter verstorben, ihre Schulkameraden lebten. Das Wichtigste jedoch: Ihr Ruppert lebte. Wenn auch in einem Lager – wie fast alle deutschen Männer der Stadt, ganz unabhängig davon, ob sie jemals an der Front gewesen waren oder nicht, ob sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten oder nicht. Ihr geliebter Mann lebte! Er war wegen seines Ohrenleidens untauglich gewesen für den Tod für Volk und Vaterland. Dieser Gedanke ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen. Er hatte niemandem etwas Böses getan, da war sie sich ganz sicher. Er würde bald heimkommen zu seiner Frau und seinen Kindern! Ihr Glaube daran war unerschütterlich.
Das herrliche Wetter sah sie wohl eher von seiner praktischen Seite. Dennoch schaute sie erfreut zum Himmel, blinzelte und hielt es geradezu für frevelhaft, an solch einem Tag keine Wäsche zu waschen.
Was für ein alberner Gedanke, dachte sie und lächelte wieder, denn sie musste doch sowieso jeden Tag waschen. Immerhin war sie Mutter von sechs Kindern, obwohl sie erst einundzwanzig Jahre zählte. Geboren hatte sie seit ihrem siebzehnten Lebensjahr zwar nur vier, aber ihr Mann hatte noch zwei Mädchen aus seiner ersten Ehe mitgebracht. Margot und Mathilde waren nur neun, beziehungsweise zehn Jahre jünger als ihre Stiefmutter und konnten deshalb schon so manche Aufgabe in Haus und Garten oder bei der Geschwisterbetreuung erledigen, was dem praktischen Sinn von Hella sehr entgegenkam.
Diese junge Frau war nicht das, was man im herkömmlichen Sinne unter schön verstehen mochte, aber hübsch, das war sie in jeglichem Sinne. Wie konnte sie mit ihrer dunkelblonden Lockenfülle, den ausdrucksvollen grauen Augen, die Iris von einem fast schwarzen Rand umsäumt, ihrer schmalen Taille und dem vollen Busen die Männer bezaubern! Das wusste sie sehr wohl. Und doch wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, einen anderen Mann als ihren eigenen auch nur anzuschauen.
Aber zurück zur Schönheit. Wollte man der Wahrheit die Ehre geben, so gab es doch untrügliche Zeichen für eine vorzeitige Alterung. Die vier kurz aufeinander folgenden Geburten hatten sie schon über Gebühr gezeichnet. Ihre Züge schienen ein wenig härter und ihre Haut schlaffer zu sein als bei ihren Altersgefährtinnen.
An jenem heißen Sommertag allerdings machte Hella einen heiteren, nein, sogar einen glücklichen Eindruck. Sie genoss trotz der vielen Arbeit den herrlichen Tag. Das konnte jeder hören, der am Haus vorbeiging. Sie sang aus voller Kehle. Sie war mit ihrem Lied „Im Frühtau zu Berge ...“ noch nicht einmal beim „vallera“ angelangt, als ihr plötzlich das Blut in den Adern stockte und die Töne auf den Lippen erstarben. Sie glaubte, eine ganze Salve von unerklärlichen Schüssen gehört zu haben. Bellend, unpassend, zerstörerisch.
Mit der harmonischen Ruhe des Vormittags, zu der auch das Wäschewaschen und -trocknen ebenso wie das Singen gehört hatten, war es mit einem Schlag vorbei.
Vorsichtig schaute sich Hella um, aber die Kinder hatten wohl von den Schüssen nichts mitbekommen. Die beiden Großen spielten mit Fritz und Christiane weiter hinten auf dem Hof, Robert und Martina, die Babys, schliefen noch im Haus.
Angstvoll schaute Mutter Hella zum Tor, das unterdessen quietschend aufgeflogen war. Aber es war zum Glück nur Klara, die Nachbarin.
Sie wohnten seit Jahren Tür an Tür, wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Klara war eine resolute, willensstarke, aber dennoch sehr beherrschte Person, die in ihrem Haushalt ebenso auf Reinlichkeit bedacht war wie auf ihre eigene gepflegte Erscheinung. Nie ging sie zum Beispiel ohne Hut aus dem Haus.
Aber wie sah sie heute aus? Ihr auf Lockenwickler gedrehtes Haar war teilweise aufgelöst, ihre Bewegungen ungewohnt ruckartig. Sie rannte atemlos auf Hella zu und schrie mit unnatürlich schriller Stimme abgehacktes, wirres Zeug. Zwischendurch schnappte sie immer mal wieder nach Luft, bevor sie wieder ein paar Wörter ausstieß.
„An der Kirche … die Schüsse, ach, dort haben sie gerade viele von uns erschossen ... wir müssen weg hier ... komm Hella, du und die Kinder ... denk an die Kinder!“
Ihr Schürzenband hatte sich gelöst und flatterte im Wind, während sie aufgeregt noch näher kam. Ein weiterer silbern glänzender Lockenwickler fiel aus dem frisch gewaschenen Haar, kullerte durch das Gras und blieb, von niemandem beachtet, an einem saftig grünen Kleepolster liegen.
Aber Hella tat, als hätte Klara überhaupt nichts gesagt oder als hätte sie deren Worte nicht verstanden. Ungerührt griff sie zum nächsten Hemd, schüttelte es kräftig aus, als wollte sie mit den klatschenden Geräuschen alle anderen übertönen.
Dann erklärte sie, von der man in der Stadt erzählte, dass sie sich schnell über alles Mögliche aufregen würde und auch nicht auf den Mund gefallen sei, scheinbar völlig ruhig und gefasst: „Nein, ich bleibe! Rupert ist schließlich auch hier!“
Klara riss ärgerlich die Augen auf. So viel Unverstand wollte ihr nicht in den Kopf. Hier ging es schließlich um Leben und Tod! In den zurückliegenden Wochen hatte sie schon genug erschütternde Nachrichten gehört. Viele Deutsche waren einfach aus ihren Häusern geworfen worden, ihr Hab und Gut geplündert, Frauen, Kinder und Greise waren geschlagen und gefoltert worden. Wollte es Hella darauf ankommen lassen? Doch sie kannte ihre Nachbarin gut genug, sodass sie wusste: Jedes weitere Wort wäre so oder so überflüssig. Klara zuckte also nur mit den Schultern und ging, den Kopf hoch erhoben, diesmal maßvollen Schrittes, vom Hof. Dabei vergaß sie trotz der ihr nachgesagten Gründlichkeit die Pforte zu schließen, die schwang nun leise und dennoch unangenehm quietschend im aufkommenden Wind.
Der Lockenwickler blieb liegen, wo er lag, denn es gab jetzt für Klara Wichtigeres, als einen Lockenwickler vom Rasen aufzuheben. Sie hatte bestimmt schon ein paar Sachen zusammengepackt „für den Fall aller Fälle“.