Zu Hause ist anderswo. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847696247
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      Würde sie jetzt womöglich gleich eine Geschichte über den Neuteich parat haben? Vielleicht waren sie früher dort einmal baden gewesen? Klaus war jetzt aber keineswegs erpicht auf harmlose Badegeschichten. Er wollte erst einmal die Sache mit dem jüngsten Bruder geklärt haben.

      „Dieser Robert ...“ setzte er an und fing einen unsicheren Blick von ihr auf.

      „Du wunderst dich, nicht wahr, dass er schon auf der Welt war, ich aber erst acht Monate alt?“

      Martina hatte, als sie davon zum ersten Mal hörte, auch ihre Probleme damit gehabt. Dabei war die Erklärung so einfach.

      „Er war eine Frühgeburt, ein Sieben-Monats-Kind, und zu dem Zeitpunkt, du weißt schon“, sie vermied es absichtlich den versuchten Gemeinschaftssuizid noch einmal zu erwähnen, „war er noch nicht einmal vierzehn Tage alt.“

      „Und was ist aus ihm geworden?“

      „Er bekam Fieber und starb nach wenigen Wochen.“

      Martina sagte es fast beiläufig, ohne ein erkennbares Zeichen von Mitgefühl für ihre Mutter.

      Arme Frau, dachte Klaus, erst der Mann und dann gleich noch der jüngste Sohn, was muss sie durchgemacht haben!

      „Das hat dir also alles deine älteste Schwester erzählt?“

      Er schaute Martina aufmerksam an und öffnete mit einem Zischen den Verschluss einer Cola-Büchse, die er aus der Kühltasche mitgenommen hatte.

      Martina nickte mit gesenktem Blick und fragte leise, ob er auch an ihre Wasserflasche gedacht habe. Sie hatte das unangenehme Gefühl, ihm den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte nachweisen zu müssen.

      „Klar, habe ich dir dein Wasser mitgebracht.“

      Schon hatte er ihr die Flasche herübergereicht, diesmal fühlte sie sich kühl an.

      Nachdem auch sie einen Schluck getrunken hatte, ließ sie sich lang ins Gras fallen, streckte den Rücken aus und spürte die eigenartig duftende Erde.

      Ihr Herz wurde weit und ein bisschen wehmütig, aber sie verstand dieses Gefühl nicht. Was soll das, schalt sie sich, wirst du jetzt auf deine alten Tage noch sentimental?

      Aber das Gefühl blieb. Wenn Klaus danach gefragt hätte, wüsste sie nicht einmal, wie sie es hätte nennen sollen.

      Heimweh? So etwas kannte sie nicht. Sie war schließlich überall zu Hause. Das hatten die beruflichen Versetzungen ihrer Pflegemutter so mit sich gebracht. In zwölf Jahren zehn verschiedene Schulen, dachte sie ohne Groll, wie hätte sie da irgendwo heimisch werden oder Wurzeln schlagen sollen?

      Und hier? Ihre Schwester hatte ihr ja nicht nur von all dem Schlimmen, das sie hier erlebt hatten, erzählt, sondern auch von vielen schönen Dingen: Von den satten Wiesen voller Mohnblumen und Margeriten im Sommer, von dem geheimnisvollen Loch zwischen der Oberleutensdorfer Straße und dem Moritzschacht im Winter.

      „Dort war immer massenhaft Schnee hineingeweht, in den wir Kinder uns mit Wonne hineinfallen ließen.“

      Ja, diese Worte hatte Schwester Margot benutzt. Mit Wonne! Dieses Gefühl war ihr auch nach Jahrzehnten noch in guter Erinnerung geblieben. Ich war natürlich nicht dabei, dachte Martina, aber ich hätte auch gern solche Erinnerungen, gestand sie sich ein.

      Klaus stützte sich auf den Ellenbogen, um seine Frau zu betrachten. Sie war klein und auch schon ein bisschen mollig, aber für ihr Alter, sie hatte die sechzig immerhin schon überschritten, war ihr Gesicht noch ziemlich faltenfrei. Sie steckte, wie meist auf Reisen, in praktischen Jeans und T-Shirt. Martina lag kerzengerade auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, was ihre dunklen Haare noch mehr durcheinanderbrachte und jetzt nach allen Richtungen abstehen ließ. Er berührte mit dem Finger begehrlich ihren Zickzack-Scheitel und kräuselte die Lippen. Ihre Beine hatte sie lang von sich gestreckt, die Augen hielt sie geschlossen, nur die Augäpfel bewegten sich leicht unter den Lidern. Vielleicht sah sie gerade etwas, was ihm verborgen bleiben sollte?

      Martina hatte wohl seinen Blick gespürt, schlug die Augen auf, sah ihn an, blinzelte gegen die Sonne, wobei nun doch ein paar Fältchen in den Augenwinkeln sichtbar wurden.

      „Ist schön hier, hm?“

      Sie hatte sich nun ebenfalls auf den Ellenbogen gestützt und die andere Hand zu einem natürlichen Sonnenschutzschild werden lassen.

      „Ja, der Entenfamilie gefällt es auch auf dem Teich“, erwiderte er.

      „Und dort hinten“, sie hatte sich noch weiter aufgerichtet, um ihm die Richtung zu zeigen, „müsste ein Campingplatz sein.“

      Sie hatte Kinderlachen, Gitarrenklänge und Musikfetzen aus verschiedenen Rekordern gehört. Ein unbestimmtes Hochgefühl erfasste sie, als die Sonne wie Honig durch die Zweige floss. Am liebsten wäre sie hinübergegangen, um teilzuhaben an der unbekümmerten Fröhlichkeit der jungen Leute.

      Klaus hatte die unverkennbare Geräuschkulisse ebenfalls gehört, aber sie erfüllte ihn keineswegs mit Sehnsucht dabei zu sein.

      Hoffentlich kam sie nicht auf die Idee, hier übernachten zu wollen, dachte er vielmehr, ohne zu wissen, dass sie diesen Gedanken noch vor wenigen Minuten gar nicht so abwegig gefunden hätte. Doch ihn, Klaus Krüger, gelüstete es nicht nach einem provisorischen Lager auf einer Luftmatratze im Zelt oder einer harten Pritsche in einem dieser Holzbungalows, deren spitze Dächer hinter den Bäumen hervorlugten.

      Klaus war schließlich kein junger Hüpfer mehr, hatte die Mitte sechzig bereits überschritten, außerdem war er müde und hungrig. Ehe seine Frau womöglich noch etwas anderes sagen konnte, schlug er vor, schnellstens weiterzufahren.

      „Weißt du was, wir quartieren uns irgendwo in einem schönen Hotel oder meinetwegen auch einer Pension ein. Morgen fangen wir dann an, dein Elternhaus zu suchen ...“

      Martina sah mit verlorenem Blick der Entenfamilie hinterher und signalisierte weder Zustimmung noch Ablehnung. Er glaubte zu verstehen und fügte sofort hinzu: „Das heißt, wenn du das tatsächlich noch willst. Vielleicht ist es ja für dich zu schwierig ...“

      Martina war dankbar für sein Verständnis, aber nun gab es wohl kein Zurück mehr. Es waren schätzungsweise nur noch knapp zwanzig Kilometer bis zum Ort des damaligen Geschehens ... Aufgeben kam für sie nicht infrage.

      Ach, du liebe Auguste, dachte sie wieder an die Mutter ihrer Pflegemutter, deine Strenge trägt immer noch Früchte. „Was man einmal angefangen hat, das muss man auch zu Ende führen!“

      Martina hörte ganz deutlich Augustes dünne Fistelstimme und musste unwillkürlich lächeln.

      Klaus deutete ihr Lächeln als Zustimmung zu seinem Vorschlag.

      „Weißt du, was ich noch nicht ganz verstehe?“

      „Was denn?“

      „Du warst doch damals noch bei deiner Mutter und den Geschwistern. Gut, der Robert war gestorben, aber wie bist du dann eigentlich abhandengekommen?“

      Er lächelte sein gekräuseltes Lächeln, weil ihm die Wendung „abhandenkommen“ als sehr gut geeignet erschien, der Geschichte ihre melodramatische Spitze zu nehmen.

      Auch Martina bemühte sich nun ihrerseits um ein Lächeln, das ihm galt und nicht Auguste.

      „Na, vor dem Abhandenkommen sollen ja noch eine Menge anderer Sachen passiert sein“, wandte sie ein.

      „Aber davon erzähle ich dir vielleicht doch lieber heute Abend, im Hotel. Vielleicht bei einer Flasche Rotwein?“

      Einträchtig kletterten sie die sanfte Böschung hinauf, ließen Neuteich, Entenfamilie und Campingplatz hinter sich und fuhren in Richtung Litvinov (Oberleutensdorf) weiter.

      9. Notdürftiges Nachtlager

      Martina zitterten die Knie, als sie durch Lom, das frühere Bruch, fuhren.