Zu Hause ist anderswo. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847696247
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mit ihrem Mann. Mit ihm am allerwenigsten. Ihm gegenüber empfand sie immer noch eine gewisse Scheu, obwohl sie schon so lange zusammen waren.

      Immer, wenn sie das Grauenhafte in ihren Albträumen wiederzuerkennen glaubte, hatte es ihr die Kehle zugeschnürt.

      Bei Tageslicht stellten sich dann allerdings wieder Zweifel ein. Ihr stets voller Terminkalender hatte überdies jahrelang dafür gesorgt, dass ihre schlimmen Träume nicht die Oberhand gewannen.

      So war sie mit der Zeit ein wahrer Meister in der Kunst des Verdrängens geworden.

      Die Narben auf ihrer Seele waren trotzdem erkennbar geblieben, aber nur für jemanden, der ganz genau hinschaute. Doch über so etwas sprach man nicht mit anderen Menschen.

      Martina sah Auguste, die Mutter ihrer Pflegemutter, wieder vor sich: klein, dünn, das schüttere Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten und wie eine Schnecke zusammengerollt. Allein schon die Vorstellung von ihrem durchdringenden Blick, dem nichts verborgen blieb, ließ Martina erschauern.

      Und dann diese wie in Stein gehauenen Auguste-Regeln! Wie oft hatte sie sich mit rot gewaschenen Fingern gegen die ausgemergelte Brust geklopft und ihre Lebensweisheit an ihre angenommene Enkelin weitergegeben: „Wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an! Merk dir das!“

      Mochten ihr auch jetzt die Worte der Großmutter sehr operettenhaft vorkommen, damals taten sie ihre Wirkung. Wenn Ermahnungen in der Kindheit nur oft und nachdrücklich genug wiederholt werden, tragen sie irgendwann Früchte. Diese werden im Laufe der Zeit so verinnerlicht, dass man sie auch als Erwachsene kaum abzustreifen vermag. Um das zu erkennen, brauchte sie keinen Psychologen, die Erfahrung war ihr Lehrmeister.

      So hatte es sich Martina schon beizeiten abgewöhnt, ihr Herz auf der Zunge zu tragen.

      Wenn andere das taten, bitte schön. Ihre Verschlossenheit bildete ihrer Meinung nach keinen Widerspruch zu ihrer Neigung, stets kontaktfreudig zu sein. Ihr Leben lang hatte sie sich gern mit anderen Menschen unterhalten und tat das immer noch. Wenn auch die „Unterhaltung“ bei ihr fast ausschließlich im Zuhören bestand. Zur Freude der anderen – und zum Leidwesen ihres Mannes. Martina verstand schon, dass es ihren Klaus nervte, denn es wurden ja tatsächlich immer mehr, die sich bei ihr ausheulten, wie er es wenig zimperlich zu nennen pflegte.

      Klaus schaute jetzt fragend zu ihr herüber. Seine hochgezogenen Brauen sagten alles. Ihre Schweigsamkeit ging ihm gehörig gegen den Strich, denn er kannte sie eigentlich ganz anders: meistens fröhlich, unkompliziert und immer mal mit einem frechen Spruch auf der Lippe. So mochte er sie.

      Martina wusste das, konnte aber heute seinen Erwartungen nicht entsprechen. Noch während sie nach ein paar unbefangenen Worten suchte, mit denen sie ihn (und sich selbst) etwas ablenken könnte, kam er ihr zuvor.

      „Sag mal, wie war das denn eigentlich damals, als ihr rausmusstet?“, fragte er, als ginge es um etwas ganz Alltägliches.

      Martina zuckte zusammen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit solch einer Frage aus seinem Mund! Wie auch? Bisher hatte er sich doch noch nie für ihre Vergangenheit interessiert.

      Im selben Moment wusste sie, dass seine unverhoffte Frage eine Lawine ins Rollen bringen würde, die niemand mehr aufhalten konnte. Nicht einmal sie selbst.

      3. Leben ohne Vergangenheit?

      Klaus konnte absolut nicht verstehen, warum seine Frau nun schon seit Stunden so schweigsam und in sich gekehrt war, wo er ihr doch mit der Reise ins Tschechische eine Freude bereiten wollte. Aber ein Blick in ihr Gesicht verriet, dass seine Idee von ihr wohl doch nicht so freudig aufgenommen worden war.

      Du meine Güte, was war denn in sie gefahren? Irgendwie musste er sie ja mal aus ihrer schweigsamen Reserve locken. Ganz schwach erinnerte er sich, dass sie irgendwann einmal etwas von „Vertreibung“ erwähnt hatte. Das war aber mehr als zehn Jahre her. Und ihm fiel ein, dass er seinerzeit sehr erstaunt war über dieses Wort aus ihrem Mund, denn in den vierzig Jahren DDR hatte es dafür lediglich die Bezeichnung Umsiedlung gegeben, humane Umsiedlung.

      Als er sie damals darauf aufmerksam gemacht und sie gefragt hatte, ob sie das etwa schon vergessen habe, war er unangenehm berührt gewesen über ihre karge, aber unmissverständliche Antwort.

      „Humane Umsiedlung? Das war eine Lüge, wie so vieles andere auch!“

      Sie schien ihm damals selbst fast noch erschrockener als er gewesen zu sein über ihren bitteren Unterton und hatte sofort angefangen, über etwas Belangloses zu plappern.

      Seit jenem Tag hatten sie das Thema gemieden wie der Teufel das Weihwasser.

      War das vielleicht sogar der Tag gewesen, als er ihr zu erklären versucht hatte, dass sie ihm nichts aus ihrer Vergangenheit erzählen müsse? Er war sich aber nicht sicher, wie sie seine Worte aufgefasst haben könnte: „Für mich hat mit dir ein ganz neues Leben angefangen, dein Leben vor meiner Zeit gehört dir! Es interessiert mich nicht.“

      Auf der anderen Seite war es ihm wichtig, dass auch sie keine allzu große Neugier bekundete, wenn es um seine eigene Vergangenheit ging. Er war froh, dass sie das so schnell gelernt hatte, was er sich wünschte. Ihre anfänglich munter hervorsprudelnden Fragen waren jedenfalls schnell versickert gewesen.

      Er fuhr jetzt ziemlich forsch an einen grünen Skoda heran, blinkte kurz, um ihn gleich darauf zu überholen.

      Martina war ganz blass geworden. Sie hatte sich wohl von seiner beiläufigen Frage noch immer nicht erholt. Doch ihm kam es so vor, als bemühe sie sich um Contenance. Sie schaute angestrengt geradeaus, tat so, als interessiere sie nichts mehr als sein Überholmanöver.

      Dabei überschlugen sich die Fragen in Martinas Kopf. Woher kam plötzlich dieses Interesse? Was, um alles in der Welt, sollte sie ihm antworten?

      Seit so vielen Jahren waren sie nun schon zusammen, doch bisher hatte er sich jedes Mal dagegen verwahrt, sobald sie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählen wollte. Im Hinblick auf die Geschehnisse in ihrer Geburtsstadt war ihr das zwar gerade recht gewesen. Aber im Hinblick auf ihr sonstiges Leben hätte sie sich manchmal schon etwas mehr Interesse gewünscht.

      Seine Worte klangen ihr noch im Ohr.

      „Für uns hat jetzt ein neues Leben angefangen!“

      Sie solle ihm bloß nicht mit irgendwelchen alten Geschichten kommen …

      Dabei hatte er seine Meinung stets so nachdrücklich vertreten, dass niemand es gewagt hätte, dem eine anders lautende entgegenzusetzen. Und Martina, die jeder als konfliktscheu kannte, schon gar nicht.

      Mit der Zeit hatte sie es aufgegeben, ihm von sich, ihrer gescheiterten Ehe oder den Konflikten mit ihrem Sohn erzählen zu wollen. Schließlich erzählte Klaus auch kaum etwas von sich, seinem Leben mit seiner Frau, die so jung gestorben war. Ebenso nebulös blieb auch das Bild von seinen Kindern. Seine Tochter lebte in Bayern, sein Sohn in Schleswig-Holstein. Sie schienen keinen Wert auf Kontakte zu legen, ebenso wenig wie ihr Vater seinerseits.

      Martina wagte es dann bald nicht mehr, nach dem Warum zu fragen, nachdem er sie wegen ihrer neugierigen Fragerei in die Schranken verwiesen hatte.

      Es hatte sie nicht zu interessieren, was früher war …

      Da sie, wenn auch widerstrebend, sich an seine aufgestellte Regel hielt, glaubte er wohl, dass seine Frau seine diesbezüglichen Prinzipien ebenfalls verinnerlicht habe. Manchmal war sie schon drauf und dran gewesen, es selbst zu glauben. Immerhin: Es war ihr mit der Zeit immer besser gelungen, ihr Interesse für sein Leben (und vor allem das seiner Familie) nicht zu offenkundig zu äußern.

      Sie hatte ja auch irgendwie ihre Prinzipien. Eines davon war, andere Menschen nicht umzuerziehen oder mit den eigenen Auffassungen zu bedrängen. So gelang es ihr, seine Ansichten zu akzeptieren, ohne sie jedoch in jedem Falle zu teilen.

      Zu all dem wollte die eben gehörte Frage einfach nicht passen.

      Woher kam der plötzliche Sinneswandel?