Zu Hause ist anderswo. Monika Kunze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Kunze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847696247
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längst wieder vergessen?

      Sein Blick war ruhig nach vorn gerichtet, seine Hände jedoch umschlossen so fest das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das verriet ihn.

      Sie bemerkte, wie wieder winzige Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten, über die Schläfe rannen, dicht am grauen Haaransatz vorbei. Diesmal hütete sie sich davor, ihm den Schweiß abzutupfen, hielt ihm stattdessen ein Papiertaschentuch hin. Für einen Moment musste er eine Hand vom Lenkrad lösen, um sich den Schweiß abzuwischen.

      Martina fielen die weiß hervorgetretenen Knöchel wieder ein und sie glaubte nun zu wissen, dass er trotz seiner zur Schau getragenen Gelassenheit noch immer gespannt auf ihre Antwort wartete. Oder war hierbei nur ihr eigener Wunsch der Vater des Gedankens?

      Seine Frage gar noch einmal zu wiederholen, würde ihm sowieso nicht in den Sinn kommen. Soweit kannte sie ihn.

      Plötzlich hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: „Klaus, ich weiß das alles doch selbst nicht so genau, ich war ja noch ein Baby, als wir dort wegmussten.“

      Es hatte sie einige Anstrengung gekostet, ihre Stimme so gleichmütig wie möglich klingen zu lassen, denn ihm waren solche melodramatischen Geschichten, als die er die ihre ganz bestimmt bezeichnen würde, schon immer ein Gräuel gewesen.

      Martina kurbelte das Schiebedach zurück. Nun spürte auch sie die Hitze, die langsam unerträglich zu werden begann.

      Ob er wohl gemerkt hatte, wie viel Kraft sie aufbringen musste, um bei ihm einen glaubhaften Eindruck von Gelassenheit zu erwecken?

      Ob er wohl ahnte, dass ihr „weiß nicht so genau“ eigentlich einen Schutzschild darstellte, um nicht über die Einzelheiten des Geschehens reden zu müssen, über dieses grelle, bizarre, schmerzhafte Mosaik?

      Und wenn? Würde sie es überhaupt fertigbringen, mit ihm über dieses dunkle Kapitel im Leben ihrer Familie zu reden?

      Sie wusste nicht, ob die Unsicherheit oder ihr Unwille stärker war. Bisher war er doch schließlich auch mit ihren knappen Informationen, dass sie kurz nach dem Krieg wie ein Paket in einem Krankenhaus abgegeben, aber nie wieder abgeholt worden und bei einer Pflegemutter aufgewachsen war, durchaus zufrieden gewesen.

      Wieso genügte ihm das plötzlich nicht mehr?

      Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie griff hinter ihren Sitz, fischte nach der Wasserflasche, fand sie aber nicht.

      Sie wollte Zeit gewinnen und dehnte das Kramen aus.

      Zeit?

      Wofür?

      Klaus schien ihr vergebliches Bemühen, die Wasserflasche zu finden, wenig amüsiert aus den Augenwinkeln zu beobachten, aber er sagte nichts dazu. Nur die Musik aus dem Radio und die Geräusche des Fahrtwindes zerteilten die Stille.

      Martina begann langsam an der Realität ihrer Wahrnehmungen zu zweifeln. Hatte ihr Mann tatsächlich nach jenen Ereignissen nach Kriegsende gefragt oder hatte die Angst ihr etwa wieder einen Streich gespielt? Würde das denn niemals aufhören?

      Klaus wirkte jetzt so nervös, so angespannt.

      Martina fühlte sich in die Enge getrieben, wusste aber nicht einmal mehr genau, ob sie seine Fragen wirklich so sehr fürchtete. Vielleicht sehnte sie sie ja sogar herbei, wollte es sich nur nicht eingestehen?

      Ungeduldig hantierte Klaus nun an den Knöpfen und Tasten des Autoradios. Musikfetzen wechselten sich ab mit zerstückelten Nachrichten. Er suchte offenbar nach Musik, die seinem Geschmack entsprach. Vergeblich, wie es schien.

      Missmutig brummte er so etwas wie „wieder keine Beatles in diesem Kasten“.

      Vielleicht hatte er ja seine Frage tatsächlich schon vergessen? Fast wollte sich Erleichterung bei Martina einstellen.

      Da endlich rollte die lauwarme Plastikflasche in ihre Hände.

      „Willst du auch einen Schluck?“

      Schon ärgerte sie sich über ihre überflüssige Frage, sie wusste schließlich, dass er lauwarme Selters verabscheute, andererseits hielt sie eine solch belanglose Frage für eine unverfängliche Möglichkeit, das inzwischen wohl für beide bedrückende Schweigen zu durchbrechen.

      Prompt schüttelte Klaus den Kopf. Martina setzte, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, die Flasche an die Lippen, ließ das lauwarme Wasser die Kehle hinunter rinnen, schluckte angewidert. Mit Erfrischung hatte das wahrlich nichts zu tun.

      Sie war ihrem Mann jetzt fast dankbar, dass er nichts weiter fragte, denn je mehr Zeit verstrich, desto spürbarer wich dieser unangenehme Druck von ihr. Sie lehnte sich im Sitz zurück und atmete tief durch. Beiläufig bemerkte sie wieder einmal, dass die Kopfstütze für sie viel zu hoch angebracht war. Trotzdem lehnte sie sich an und schloss die Augen, vielleicht würde es ihr ja gelingen, sich irgendwie zu entspannen. Sie wollte an etwas Schönes denken, an die Wiesen voller blutroter Mohnblumen zum Beispiel, denen sie heute nicht die gebührende Beachtung geschenkt hatten …

      Doch mit einem Mal kamen die Mosaiksteinchen zurück, purzelten durcheinander, verschoben sich in Farbe und Form, bis sich die Bilder schließlich, irgendeinem rätselhaften Gesetz folgend, in rasanter Geschwindigkeit zusammenfügten. Das schien leicht, viel zu leicht, fast tänzerisch. Aber das Bild mit den schreiend grellen Farben, auch blutrot, wie Mohn, war darunter, legte sich wie eine schwere Last auf ihre Brust. Sie konnte ein Aufstöhnen nicht mehr zurückhalten, und plötzlich wusste sie, dass sie gar nicht mehr imstande sein würde, diese Last noch länger allein zu tragen.

      „Es muss so ein Tag gewesen sein wie heute“, begann sie leise und war selbst überrascht vom heiseren Klang ihrer Stimme. „Heiß und schwül. Es war der 26. Juli. Hochsommer.

      Unser Vater soll in einem Lager gewesen sein, wie Tausende andere auch in dieser Zeit. Warum weiß ich nicht so genau. Meine Geschwister meinten später, dass die Tschechen wohl damals alle deutschen Männer sicherheitshalber erst einmal eingesperrt haben, auch solche wie meinen Vater, den Ofensetzer, der nie im Krieg war und sich auch nichts hatte zuschulden kommen lassen.“

      Klaus zeigte zunächst keinerlei Überraschung, als sie nun doch zu erzählen begann. Aber beim letzten Satz kam schon sein erster Einwand.

      „Na, ich weiß ja nicht, so ohne Weiteres werden die ihn doch auch nicht eingesperrt haben ...“

      Klaus sah zwar nur ganz kurz zu ihr herüber, aber seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten ihr mehr als jedes weitere Wort, wie zweifelhaft ihm die Sache vorkam. Auch Martina war bei seinem Blick fast geneigt, seine Skepsis zu teilen. Aber andererseits: Warum sollte ihr Vater nicht unschuldig eingesperrt gewesen sein? So etwas soll es doch schließlich, wie ihre späteren Nachforschungen ergeben hatten, damals – wie zu anderen Zeiten und an anderen Orten auch – tausendfach gegeben haben. Deshalb quittierte sie seinen Einwand lediglich mit einem Achselzucken.

      „Mutter soll gerade beim Wäscheaufhängen gewesen sein, als plötzlich wieder Schüsse fielen, wie so oft in diesen Tagen. Von friedlicher Nachkriegsstille habe damals wirklich keine Rede sein können, hat meine Schwester erzählt“, fuhr Martina unbeirrt fort. Der Stein war nun einmal ins Rollen gekommen.

      Hinter den Autoscheiben rauschten Bäume und Sträucher vorbei. Vor ihrem satten Grün flanierten die Bordsteinschwalben, Fräuleins, wie es ein Kollege von Martina jedes Mal vornehm zu umschreiben pflegte, um das Wort Nutten nicht in den Mund nehmen zu müssen. Zierlich die einen, extrem vollbusig die anderen, grell geschminkt fast alle.

      Klaus schenkte den Fräuleins keinerlei Beachtung.

      Sie hatten inzwischen schon den einstigen Grenzübergang passiert.

      Vor einem der typisch holprigen Bahnübergänge nahm er das Gas zurück. So langsam und vorsichtig fuhr er in Deutschland schon seit Langem nicht mehr über die Gleise.

      Martina berührte leicht seinen braun gebrannten Arm und lächelte ihn dankbar an. Sie war auch im Sitzen viel kleiner als er, deshalb konnte er wohl ihren wieder wenig exakten Scheitel in dem dunklen Haar wahrnehmen. Dieser Anblick hatte