Mondblume. Nelia Gapke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nelia Gapke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000351
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als sie sich hinsetzte und das Buch aufschlug. Er platzierte sich zu ihren Füßen, legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und blickte traurig zu ihr hoch.

      „Ja, ich weiß. Du willst wieder spielen. Aber das müssen wir etwas verschieben. Ich möchte jetzt erst mal gerne lesen.”

      *

      „Aigul? Wir müssen jetzt los. Sonst wird das Abendessen womöglich noch kalt”, rief Nasar.

      Er stand im Hof, die Arme vor der Brust verschränkt. Muchtar öffnete die Augen und richtete sich auf. Aigul war so in die Lektüre vertieft gewesen, dass sie die Zeit vergessen hatte. Die Sonne stand schon ziemlich tief am Horizont und es war auch schon kühler geworden. Sie klappte das Buch zu, erhob sich und ging zum Haus. Sie hatte keine große Lust jetzt noch irgendwohin zu fahren und erst recht nicht mit Nasar. Stattdessen hätte sie sich lieber in ein kuscheliges, weiches Bett verkrochen und mindestens zwanzig Stunden lang geschlafen.

      „Zieh dir lieber noch was über”, wandte Nasar sich an sie, als sie an ihm vorbeiging. „Wenn wir zurückgehen, wird es wesentlich kühler sein als jetzt.”

      „Gehen wir etwa zu Fuß?”

      „Ja. Es ist nicht weit von hier. Etwa eine Viertelstunde die Straße hinauf.”

      Aigul nickte und verschwand im Haus. Sie ging in die Küche zum Waschtisch und blickte prüfend in den Spiegel. Zufrieden schnitt sie sich eine Grimasse und ging ins Wohnzimmer, legte das Buch auf den Tisch und holte aus einem der Koffer ihre warme, grüne Strickjacke. Diese passte ganz gut zu ihrem knielangen, mintgrünen Baumwollkleid, das sie anhatte.

      Auf dem Hinweg zu Nasars Verwandten liefen sie schweigsam nebeneinander, nur Muchtar sorgte für etwas Unterhaltung. Nasar warf den Stock und Muchtar holte diesen, jedes Mal mit großer Begeisterung, wieder.

      Die Straße schlängelte sich bergauf am Issyk-Fluss entlang. Der Fluss war von hier aus gut sichtbar und man hörte das Rauschen des Wassers. Bäume, unter anderem auch Obstbäume säumten den Wegesrand. Hinter der Straßenbiegung wurden endlich die Häuser sichtbar, es waren nicht mehr als zehn. Sie standen ziemlich weit auseinander, doch mit den Scheunen und Ställen ergaben sie das Bild, eines kleinen Bergdörfchens. Das Gackern der Hühner und der Enten wurde hörbar, sowie auch die Stimmen der Kinder, die draußen mit Spielen beschäftigt waren.

      Muchtar spitzte die Ohren, als er Hundegebell hörte.

      „Na los, ab mit dir! Lauf und spiel mit deinen Freunden!”, sagte Nasar und versetzte dem Hund einen leichten Klaps auf den Rücken.

      Muchtar sah ihn glücklich an und preschte los in Richtung des Hundegebells.

      „Siehst du das Haus dort, mit dem blauen Tor?” Nasar wies mit dem Finger die Richtung. “Etwas abseits?”

      Aigul nickte, als sie das Haus mit den Augen fand.

      „Da wohnt meine Tante.”

      Das Tor stand offen und sie gingen gleich in den Hof hinein. Eine grauhaarige, alte Frau kam ihnen lächelnd entgegen. Sie war klein und sehr dünn doch ihre schwarzen Augen glitzerten lebhaft.

      „Mein Junge! Schön, dass ihr gekommen seid!”

      „Guten Abend, Apa!”

      Nasar lächelte und umarmte seine Großmutter. Diese machte sich jedoch sofort frei aus seiner Umarmung und sah ihn gespielt streng an.

      „Willst du mir wohl deine Frau vorstellen?!”

      „Aber gern”, meinte er grinsend. „Das ist Aigul und das ist meine Großmutter”, mit diesen Worten trat er ein Stück beiseite.

      „Komm her, Töchterchen, und lass dich umarmen”, sagte die Großmutter strahlend und breitete ihre Arme aus.

      Aigul lächelte und ließ sich von der alten Frau herzlich umarmen. Die Großmutter nahm Aiguls Gesicht in beide Hände und musterte sie eingehend.

      „Hübsch bist du Mädchen, eine richtige Schönheit!”

      Aigul lächelte und errötete leicht.

      „Eins sage ich dir gleich, mein Kind, du bist hier immer willkommen”, sagte die Großmutter mit einem warmen Blick und drückte Aigul einen Kuss auf die Stirn.

      „Danke, Apa!”

      Aigul war von der herzlichen Begrüßung gerührt. Und sie wusste schon jetzt, dass es unmöglich war, Nasars Großmutter nicht zu mögen.

      Eine Frau und ein Mann, beide auch schon etwas älter, kamen aus dem Haus auf sie zu. Nasar stellte sie ebenfalls vor.

      „Das ist mein Onkel Bulat und meine Tante Gulnara. Und das ist meine Frau, Aigul.” Die Worte ´meine Frau´ betonte er besonders.

      Beide umarmten Aigul und hießen sie ebenfalls in der Familie willkommen.

      „So, und nun kommt bitte alle zu Tisch. Wir wollen das Essen nicht kalt werden lassen”, sagte Tante Gulnara und ging als erste voran.

      Nasar legte seinen Arm um Aiguls Schultern und führte sie ins Haus. Sie hätte gern gegen seine Umarmung protestiert und sich sofort von seinem Arm befreit, aber sie ließ es sich gefallen. Seine Verwandten hatten sie so gefühlvoll aufgenommen und sie wollte einfach die herzliche Atmosphäre nicht stören. Sie schwieg und spielte die fügsame Ehefrau.

      Der Abend verlief sehr schön. Die Großmutter bedauerte es sehr, nicht bei der Hochzeit dabei gewesen zu sein. Ihr Herz hatte ihr wieder mal einen Strich durch die Rechnung gezogen und sie musste statt zur Hochzeit zu fahren, von Bulat und Gulnara zum Arzt gebracht werden.

      Obwohl Aigul nicht wirklich hungrig gewesen war, hatte sie doch eine Menge gegessen. Eine volle Schale Plow (asiatisches Reisgericht mit Lammfleisch und Mohrrüben) mit Nachschlag und zum Tee noch mehrere Baursaki (in Öl gebackene Hefeteigbällchen) mit Honig. Es war auch unmöglich nicht zu essen, denn die Großmutter und Tante Gulnara schienen ein ´Ich habe keinen Hunger mehr´ nicht zu akzeptieren. Außerdem schmeckte das Essen wirklich gut und die heimelige und ausgelassene Atmosphäre ließ Aigul sich fast wie zu Hause fühlen.

      „Iss ruhig mehr, mein Kind. Männer mögen weiche Frauen, an die sie sich ankuscheln können”, sagte Apa leise zu Aigul und zwinkerte ihr schmunzelnd zu.

      Aigul errötete leicht und hoffte, dass Nasar nichts gehört hatte. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und wurde jetzt richtig rot, denn er blickte sie an und grinste zufrieden. Aigul senkte schnell ihren Kopf, damit niemand ihre flammendroten Wangen sehen konnte. Das war doch die Höhe! Jetzt würde sie mit Absicht nichts mehr essen, sonst kommt dieser Mann noch womöglich auf falsche Gedanken!

      Es war schon ziemlich spät, als sie endlich nach Hause aufbrachen. Muchtar war schon vor einer Weile aufgetaucht und hatte sich ebenfalls mit Leckerbissen verwöhnen lassen. Nun lief er gut gelaunt nebenher.

      Der Himmel war klar und der Mond erleuchtete schwach den Weg. Nur das Rauschen des Flusswassers und das Zirpen der Grillen durchbrachen die nächtliche Stille.

      Fröstelnd zog Aigul ihre Strickjacke fester um sich zusammen, die Luft hatte sich inzwischen empfindlich abgekühlt. Unversehens stolperte sie und wäre hingefallen, hätte Nasar sie nicht aufgefangen. Er legte nun seinen Arm beschützend um ihre Schultern. Aigul versuchte sich aus seiner Umarmung zu befreien, doch Nasar hielt sie mit Nachdruck fest. Es ärgerte sie, dass er sich so benahm, doch sie unterließ das Kräftemessen. Solange es nur die harmlose Umarmung war. Außerdem fühlte sich sein Arm auf ihren Schultern angenehm warm an.

      Nasar blieb plötzlich stehen und wies mit dem Finger in den Himmel: „Da, siehst du das Flugzeug?”

      Aigul blickte in die Richtung, in die Nasar zeigte und sah einen Stern, der blinkte und sich langsam bewegte.

      „Ja, sieht aus wie ein Stern der blinkt”, meinte sie.

      „Wenn ich daran denke, dass die Menschen noch bis vor achthundert Jahren dachten, die Erde sei eine Scheibe und der Himmel wölbe sich wie eine Halbkugel darüber und jetzt ist es für uns absolut selbstverständlich, dass