Mondblume. Nelia Gapke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nelia Gapke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000351
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eben weiterentwickelt.”

      „Allerdings, das haben sie”, erwiderte er. “Aber findest du, dass man diese Entwicklung tatsächlich als Weiterentwicklung bezeichnen kann?”

      Aigul dachte kurz nach, bevor sie antwortete. Es gefiel ihr, dass Nasar ihre Meinung hören wollte. Längst nicht alle Männer, die sie kannte, interessierten sich für die Meinung einer Frau.

      „Ich sehe es auf jeden Fall als positiv. Der Fortschritt in der Technik ermöglicht es den Menschen Dinge zu tun, die ohne die Technik undenkbar wären.”

      „Weißt du, Aigul, früher habe ich auch nur die Erfolge der Technisierung gesehen. Leider gibt es auch die andere Seite des technischen Fortschritts, nämlich die fortschreitende Zerstörung der Natur. Die Industrie schert sich nicht darum, was mit der Umwelt geschieht. Es geht immer nur um mehr Produktion und um mehr Gewinne, mehr Geld und mehr Macht. Doch zu welchem Preis, das haben die meisten Menschen noch nicht erfasst oder übersehen es mit Absicht. Sie begreifen leider nicht, dass sie langsam aber sicher an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen.”

      Aigul schwieg und dachte über seine Worte nach. Aus dieser Sicht hatte sie die menschliche Entwicklung noch nie betrachtet. Stand es denn wirklich so schlimm um die Umwelt? Sie wusste es nicht. Sie hatte sich bis jetzt nicht dafür interessiert.

      Sie waren mittlerweile zu Hause angekommen. Nasar schloss die Haustür auf und machte in der Diele das Licht an.

      Aigul beugte sich zu Muchtar, strich über sein Fell und kraulte ihn hinterm Ohr. Sie wusste, dass sie Zeit schindete, denn es behagte ihr nicht, ins Haus reinzugehen und mit diesem Mann die Nacht zu verbringen. Als es noch hell war, sah die Sache irgendwie weniger bedrohlich aus.

      „Lass uns ins Bett gehen, Aigul. Du bist sicherlich genauso müde, wie ich.”

      Aiguls Herz fing augenblicklich an zu pochen und sie hörte Alarmglocken in ihrem Kopf. Was war da mit ´uns´ und ´ins Bett gehen´? Sie dachte nicht einmal daran! Lieber würde sie die Nacht hier draußen neben Muchtars Hütte verbringen!

      Nasar nahm sie an der Hand und zog sie sanft ins Haus.

      „Keine Angst, du siehst Muchtar schon morgen wieder.”

      Er machte die Tür, ohne ihre Hand loszulassen, hinter ihnen zu und zog sie durch das Wohnzimmer direkt ins Schlafzimmer. Panik erfasste Aigul. Sie riss ihre Hand los und machte auf dem Absatz kehrt, um aus dem Schlafzimmer zu laufen, doch Nasar war schneller. Er packte sie am Handgelenk und wirbelte sie herum. Mit einem Schwung landete sie in seinen Armen.

      „Lass mich sofort los!”, schrie sie und stemmte sich gegen seine Brust.

      Doch er ließ nicht los, sondern presste sie noch fester an sich. Sie versuchte sich zu befreien, doch es war vergebens.

      „Bitte, lass mich sofort los!”

      Ihre Stimme zitterte teils vor Ärger, teils vor Angst. Sie blickte ihm ins Gesicht und hielt inne. Er sah aus, als würde er sich noch kaum beherrschen können und jeden Augenblick in schallendes Gelächter ausbrechen. Wut stieg in ihr hoch. Dieser Affe amüsierte sich auf ihre Kosten! Sie machte den Mund auf, um ihrer Empörung Luft zu machen, doch bevor sie etwas sagen konnte, senkte er den Kopf und küsste sie auf den Mund. Sie versuchte sich zu wehren, doch er hielt sie weiterhin fest im Griff.

      Sein Kuss war fordernd, seine Lippen fühlten sich heiß an. Resigniert gab Aigul ihren Widerstand auf und ließ es über sich ergehen. Scheinbar war sie ihm wehrlos ausgeliefert. Zu ihrer Verwirrung empfand sie seinen Kuss jedoch nicht so abstoßend, wie sie erwartet hätte. Fand sie ihn sogar angenehm? Die Berührung seiner Lippen löste auf jeden Fall etwas in ihr aus, was sie nicht beschreiben konnte.

      Nasar spürte, wie Aigul sich leicht entspannte und wurde etwas zärtlicher. Sachte strich er mit dem Mund über ihre Oberlippe, wanderte zu ihrer Unterlippe, umfasste diese und sog leicht daran. Behutsam liebkoste er die Ecken ihres Mundes und knabberte vorsichtig an ihren weichen Lippen.

      Aigul überließ sich dem ungewöhnlichen Gefühl, dass in ihrem Bauch ein Kribbeln hervorrief. Ihre Knie fühlten sich seltsam weich an und Empfindungen noch nicht gekannter Art durchströmten ihren Körper. Sie stemmte sich nicht mehr von ihm ab, sondern ließ ihre Hände locker auf seiner Brust liegen. Ihre Augen waren geschlossen und sie verlor jegliches Zeitgefühl. Sie spürte nur die zärtlichen Berührungen seiner Lippen und seinen warmen Atem an ihrem Mund. Ein fremdartiges Gefühl der Wonne durchströmte ihren Körper. Es war so neu für sie und doch so betörend schön. Sie wollte noch ein bisschen mehr und berührte zaghaft mit der Zunge seine Unterlippe. Nasar stöhnte auf und sein Atem ging schneller. Sein Körper reagierte sofort auf ihre Erwiderung. Er packte sie an den Hüften und drückte sie fester an sich.

      Aigul riss erschrocken die Augen auf und stemmte sich mit beiden Fäusten gegen seine Brust. Er ließ sie so abrupt los, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings stolperte. Nasar fing sie auf und bewahrte sie in letzter Sekunde vor der unsanften Landung auf dem Boden. Er zog sie hoch und stellte sie wieder auf die Füße. Seine Augen glänzten und er grinste.

      „Diesen Kuss warst du mir seit gestern schuldig!”

      Sie wusste, was er meinte. Als die Standesbeamtin sie gestern bei der Trauung zu einem Kuss aufgefordert hatte, hatte Aigul ihm ihre Wange hingehalten. Die Leute hatten angefangen zu lachen. Nasar hatte auch gelacht und sie einfach auf die Wange geküsst.

      „Wie wär´s noch mit einem Gutenachtkuss?”, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln.

      „Vergiss es!”, zischte sie, drehte sich um und lief aus dem Zimmer.

      In der Küche machte sie die Tür hinter sich zu und schob den kleinen Riegel vor. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Sie ging zum Waschtisch und blickte in den Spiegel. Ihre Haare waren etwas zerzaust, ihre Wangen gerötet und ihre Augen glänzten. Sie berührte mit den Fingerspitzen ihre Lippen, die leicht angeschwollen waren. So war also ein Kuss? Eigentlich recht schön, doch die Gefühle, die dieser Kuss in ihr ausgelöst hatte, waren irgendwie beängstigend. Sie behielt immer gern die Kontrolle über sich selbst, aber der Kuss hatte ihren Verstand leicht benebelt und irgendwie auch ihren Willen gelähmt. Nasar schien sie auf jegliche Weise aus der Bahn zu werfen. Sie musste sich sammeln. Sie wollte sich keine Schwächen erlauben. Dazu brauchte sie Kraft und vor allem ausreichend Schlaf. Sie war todmüde.

      Sie wandte sich vom Spiegel ab und ging in den Vorratsraum. Dort holte sie die Zinnwanne und einen großen Kochtopf, den sie mit Wasser füllte und auf den Gasherd zum Wärmen stellte.

      Nachdem sie ihre Zähne geputzt und sich gewaschen hatte, öffnete sie leise die Tür.

      Im Schlafzimmer war es schon dunkel. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Diwan und holte aus dem Koffer ihr Baumwollunterhemd und ihren Morgenmantel. Dann kehrte sie in die Küche zurück, zog sich dort schnell um und machte das Licht aus. Leise ging sie wieder ins Wohnzimmer und legte sich auf den harten Diwan hin. Unter den Kopf schob sie sich zwei kleine Kissen, die auf dem Diwan lagen und als Decke musste der Sofaüberwurf dienen.

      „Wieso kommst du nicht ins Bett, mein Schatz? Es ist hier viel bequemer, als auf dem alten Diwan und Platz genug für uns beide.”

      Aigul erschrak zunächst, da sie Nasar bereits schlafend glaubte, fasste sich jedoch schnell wieder.

      „Vielen Dank für das nette Angebot, aber eher schlafe ich draußen!”

      Sie hörte ein Geräusch, könnte ein gedämpftes Lachen sein.

      „Wie du willst, dann wünsche ich dir eine gute Nacht!”

      „Danke!”

      *

      Aigul wachte auf, weil die Sonne ihr direkt ins Gesicht schien. Sie blinzelte und schaute zum Fenster. Die Sonne stand bereits sehr hoch, wie spät es wohl sein mochte? Sie reckte sich und stöhnte. Ihr Rücken fühlte sich an, als hätte sie auf Steinen geschlafen.

      „Gar nicht so bequem das alte Ding, nicht wahr?”

      Aigul fuhr hoch und blickte in die Richtung, aus der Nasars Stimme kam. Sie nahm