Mondblume. Nelia Gapke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nelia Gapke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000351
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gebildete Frau. Verstohlen blickte sie zu Nasar herüber, aber da sie nur seine rechte, vernarbte Gesichtshälfte sehen konnte, konnte sie Apas Worte nicht wirklich als überzeugend empfinden. Schwer seufzend wandte sie sich ab und sank tiefer in den Sitz.

      Sie fuhren gerade aus dem Dorf heraus. Aktschi, das Dorf in dem sie geboren und aufgewachsen war, war mit den knapp zweitausend Einwohnern nicht sehr groß. Aber nichtdestotrotz gab es hier ein Einkaufszentrum, ein kleines Kinotheater, einen Kindergarten und eine Grund- und Mittelschule. Es war schon sehr viel für so ein kleines Dorf. Aigul kannte hier jede Straße, jedes Haus und fast jeden, der hier wohnte. Sie seufzte abermals schwer. Das alles hier würde sie schrecklich vermissen.

      *

      Nasar hörte Aigul schon wieder schwer aufseufzen und umklammerte fester das Lenkrad. Konnte sie nicht wenigstens ein bisschen Freude zeigen? Er kam sich bereits, wie der Schaitan (kasachisch Teufel) vor, der ein unschuldiges Mädchen zur Heirat gezwungen hatte und dieses jetzt mit Gewalt in seine Hölle verschleppte. Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. Wahrscheinlich sah Aigul die ganze Sache aus genau dieser Perspektive.

      Unwillkürlich tauchte das Bild vor seinen Augen auf, wie sie vor ein paar Stunden ganz in weiß gehüllt auf ihrem Bett schlafend lag. Unschuldig, zart und schön, wie eine Mondblume in der Nacht. Er hatte kaum den Blick von ihr abwenden können, es nicht wirklich fassen können, dass sie nun wirklich ihm gehörte, seine Frau. Er musste zusehen, dass seine Blume nicht zerbrach. Etwas von ihrem Strahlen von vor einem Jahr hatte sie schon eingebüßt. Dass er dazu beigetragen hatte, wusste er und das tat ihm Leid.

      Im Wagen herrschte insgesamt eine recht bedrückte Stimmung. Keiner von den beiden sprach auch nur ein Wort. Aigul sah es nicht ein, warum sie irgendetwas sagen sollte, wo sie doch am liebsten aus dem Auto gesprungen und zurückgelaufen wäre. Und Nasar schien, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, irgendwelchen unerfreulichen Gedanken nachzuhängen.

      Die Straßen waren holprig und der Wagen wippte hin und her. Die Schaukelei und das gleichmäßige Summen des Motors wiegten Aigul schon bald in den Schlaf.

      *

      Etwas strich leicht über ihre Wange. Aigul öffnete benommen die Augen und blickte in Nasars Gesicht, das nur einige Zentimeter von ihrem entfernt war. Unwillkürlich schrie sie auf und zuckte von ihm weg. Sie musste sich wohl im Schlaf an seine Schulter gelehnt haben, wie dumm von ihr! Sein Gesicht, seine Lippen waren so nah gewesen, als hätte er vorgehabt sie zu küssen. Ihr Herz hämmerte aufgeregt. Das letzte, was sie jetzt wollte, war mit diesem Mann, der ihr Leben kaputt zu machen versuchte, Küsschen auszutauschen. Er sollte ja die Finger von ihr lassen! Er war nur auf dem Papier ihr Ehemann und so würde es bleiben! Sie richtete sich kerzengerade auf und sah nach draußen.

      Sie hielten im Hof, vor einem kleinen Haus. Waren sie etwa schon angekommen? Fragend blickte sie zu Nasar. Sein Gesichtsausdruck sah so traurig, beinahe schmerzerfüllt aus, dass sie auf einmal Mitleid mit ihm bekam. Sollte sie zu ihm etwas Nettes sagen? Was konnte sie ihm denn sagen? Doch schon hatte sich sein Gesichtsausdruck geändert und sie sah Ärger in seinen Augen aufblitzen.

      „Wie lange willst du hier noch sitzen? Steig endlich aus, wir sind längst da!”, fuhr er sie schroff an, sprang aus dem Auto und knallte die Tür hinter sich zu.

      Aigul zuckte zusammen und ihre Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen. Sie schluckte und biss ihre Lippen zusammen. Die letzten Wochen war sie ständig nur am Heulen. Seit ihre Großmutter ihr mitgeteilt hatte, sie würde Nasar alsbald heiraten müssen, hörte der Tränenfluss nicht auf. Was würde sie nur für die Zeit, vor diesen Wochen geben! Sie war so glücklich und unbeschwert gewesen. Und jetzt? Sie schniefte und wischte sich die Tränen weg. Und was war mit diesem Mann überhaupt los? Erst hatte er sie erschreckt, indem er so nah an ihr Gesicht rankam, dann hatte er so traurig geguckt, dass sie Mitleid mit ihm bekommen hatte und schon im nächsten Moment hatte er sie ohne einen Grund angeschrien.

      Sie holte tief Luft, öffnete die Wagentür und stieg aus. Nasar verschwand gerade mit ihren Koffern im Haus.

      *

      Nasar biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe und stellte die Koffer auf dem Boden des Schlafzimmers ab. Was war er doch für ein Idiot! Wieso hatte er sie nur angebrüllt?! Hatte er sich nicht vorgenommen gehabt, behutsam mit ihr umzugehen? Aber sie hatte ihm mit ihrem Verhalten wehgetan und er hatte sich gerächt. Zuerst hatte ihm ihr Zurückschrecken, als wäre er der Leibhaftige persönlich, einen Stich ins Herz versetzt. Und dann hatte ihr mitleidiger Blick ihn noch mehr angekratzt. Aber konnte er denn etwas anderes von ihr erwarten, so wie er aussah? Er wusste doch, wie die Leute, insbesondere Frauen, auf sein Gesicht reagierten, solange sie ihn nicht kannten. Aber ihre Nähe, der Duft ihrer Haut und das lockende Verlangen ihren leicht geöffneter Mund zu küssen ließen ihn alles vergessen. Sie hatte im Schlaf so verdammt süß ausgesehen! Verstimmt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte schwer. Es wird nicht einfach werden, aber es war ihm trotzdem jede Mühe wert.

      *

      Aigul fröstelte, denn es war sehr frisch, trotz der strahlenden Sonne. Sie hatte keine Ahnung wie lange sie gefahren waren und wo sie jetzt waren. Apa hatte gesagt, Nasar wohne in Issyk. Diese Stadt war etwa fünfunddreißig Kilometer von Aktschi entfernt. Aber sie waren nicht in Issyk, soviel stand fest. Weit und breit waren keine anderen Häuser zu sehen, sondern nur Berge, wunderschöne grüne Berge mit hohen, majestätischen Tannen. Auf dem saftig grünen Gras glitzerten die Tautropfen, wie kostbare Perlen in der Sonne und irgendwo in der Nähe war das Rauschen des Wassers zu hören.

      Aigul sog tief die frische Luft ein, die ganz anders roch, als unten in der Steppe. Aktschi war von weiten, von der sengenden Sommersonne ausgebrannten Steppen umgeben. Die Luft war dort staubig und trocken. Hier war sie dagegen so herrlich frisch und würzig.

      Das Haus sah schon ziemlich alt aus. Das Dach war mit grauen Schieferplatten gedeckt und die graue Fassadenfarbe, vermutlich war sie mal weiß gewesen, blätterte bereits an einigen Stellen von den Wänden ab. Stellenweise fehlte sogar der Putz und gab den Blick auf die roten Ziegelsteine frei. Die Fenster waren recht klein, doch irgendwie passte dieses leicht verwahrloste Haus in diese üppig grüne Berglandschaft mit dem strahlend blauen Himmel. Es hatte etwas malerisches, ja etwas nostalgisches an sich.

      Nasar erschien in der Tür und lehnte sich an den Rahmen. Sein Gesichtsausdruck war jetzt etwas freundlicher als vorhin.

      „Du kannst ruhig hereinkommen. Ich habe für uns schon Tee aufgesetzt.”

      Er löste sich von dem Türrahmen und ging auf sie zu. Sie machte unwillkürlich zwei Schritte zur Seite. Doch er marschierte an ihr vorbei zum Wagen und holte die restlichen Sachen aus dem Kofferraum. Als er vollbeladen wieder an ihr vorbeiging, zuckte er nur mit den Achseln.

      Bevor er wieder im Haus verschwand, rief er ihr über die Schulter zu: „Nur zu deiner Kenntnis, ich beiße keine kleinen Mädchen!”

      Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. Aigul kam sich auf einmal albern und unreif vor. Sie stand hier und hatte doch tatsächlich Angst ins Haus reinzugehen. Sie reckte den Kopf, straffte ihre Schultern und ging festen Schrittes auf das Haus zu. Eingebildeter Affe! Er würde noch früh genug merken, dass sie kein kleines Mädchen mehr war. Sie war erwachsen und ihm ein ebenbürtiger Gegner!

      Die Eingangstür führte in eine kleine dunkle Diele. An der linken Wand waren einige Kleiderhacken angebracht auf denen Regenkleidung und eine dicke Wolljacke hing. Darunter standen ein paar Männerschuhe, unter anderem auch Wanderstiefel und hohe Gummistiefel. Durch die nächste Tür trat Aigul in ein nicht sehr großes, aber wohnliches Zimmer. Den Möbeln nach zu urteilen, war es das Wohnzimmer. Die Wände hier waren hellblau gestrichen und sahen, im Gegensatz zu den äußeren Wänden des Hauses, viel gepflegter aus. In einer Ecke des Zimmers stand ein alter blauer Diwan, an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Holztruhe. Vor dem Fenster standen ein runder Tisch mit einer bunten Tischdecke und vier Holzstühle. In der Mitte des Raumes lag ein alter, dunkelblauer Teppich mit geschwungenen Ornamenten. Aus dem Nebenraum war Geschirrgeklapper zu hören, das musste wohl die Küche sein.

      „Leider gibt es hier keinen Fernseher, da ich mich hier nur selten aufhalte.”