Mondblume. Nelia Gapke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nelia Gapke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738000351
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mit langen weiten Ärmeln aus zarter Spitze. Es stand ihr sehr gut und passte wie angegossen, als sie es am Abend zuvor anprobiert hatte. Die Tante ihres Bräutigams hatte es für sie genäht, sie war, wie es aussah, sehr geschickt im Nähen. Die beiden Schmuckstücke waren aber die weiße, eng anliegende Weste, die reich mit goldenen und silbernen Ornamenten bestickt war und Aiguls schmale Taille betonen sollte und der spitze, reich verzierte Hut. Aigul nahm den danebenliegenden weißen Schleier und presste ihn an ihre Brust. Der Schleier hatte noch ihrer Mutter gehört. Ihre Großmutter war gestern Abend zu ihr ins Zimmer gekommen und hatte ihr den Schleier, mit den Worten `Der wird dir genauso gut stehen, wie damals deiner Mutter` feierlich überreicht. Aigul seufzte unglücklich und ließ den Schleier wieder auf das Bett gleiten. Sie musste noch heute Abend weg, es war ihre letzte Chance dem Schicksal zu entrinnen, das sie sich nicht ausgesucht hatte. Aber zu wem könnte sie denn gehen? Zu keinem aus ihrer Verwandtschaft, das stand fest. Sie würden sie sofort wieder zurück zu ihren Großeltern bringen. Nadja!! Aiguls Herz schlug schneller. Aber ja, sie könnte zu ihrer Freundin Nadja gehen. Sie war ihre beste Freundin und würde ihr helfen. Nadjas Eltern würden es bestimmt auch verstehen. Sie waren Russen und hielten nichts von arrangierten Hochzeiten, wie das bei Kasachen leider immer noch üblich war. Die beiden waren bereits seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet und durften damals ihren Lebenspartner selbstständig und aus Liebe wählen.

      Aigul fragte sich, was ihre Eltern sich wohl dabei gedacht hatten, als sie sie noch als kleines Mädchen diesem Nasar versprochen hatten. Sie konnte sich an ihre Eltern kaum erinnern. Sie war fünf Jahre alt gewesen als sie bei einem Busunglück ums Leben kamen. Ihr älterer Bruder, Murat, war damals sieben gewesen. Aigul vermisste ihn sehr. Er diente seit über einem Jahr bei der Armee und hatte nicht mal zu ihrer Hochzeit frei bekommen.

      „Aigul! Wo steckst du?”

      Aigul seufzte tief und eilte wieder in die Küche, woher Großvaters ungeduldige Stimme kam.

      „Hier bin ich Ata (kasachisch Großvater). Was brauchst du denn?”

      Der Großvater sah ihr eindringlich ins Gesicht und schnaubte verächtlich.

      „Ihr Frauen! Aus euch wird man nicht schlau. Ihr seid andauernd am Heulen, auch wenn ihr euch freuen solltet.”

      Er zeigte mit seinen blutverschmierten Händen in Richtung Vorratskammer.

      „Hol mir schnell eine große Schüssel für die Innereien und dann kannst du deiner Großmutter beim Brotbacken helfen. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste.”

      *

      Aigul wartete bis es im Haus ganz still geworden war. Es war schon spät, bereits kurz vor Mitternacht. Sie war müde, denn es hatte den ganzen Tag viel zu tun gegeben. Morgen würden viele Gäste kommen, dafür wurde im Hof ein großes Zelt aufgespannt. Es wurden zwei Lämmer geschlachtet, viel gekocht und gebacken. Aber sie würde morgen nicht dabei sein. Sie nahm ihre Tasche und schlich leise zum Fenster. Um durch die Tür herauszukommen, müsste sie am Schlafzimmer ihrer Großeltern vorbei, also würde sie lieber durch das Fenster ihres Zimmers verschwinden. Sie öffnete vorsichtig das Fenster und zögerte einen Moment. Draußen war es ganz still, nur das Zirpen der Grillen war zu hören. Sie atmete tief die warme Nachtluft ein und blickte in den Himmel. Der Mond leuchtete hell und schien ihr zuzulächeln. Ja, es war die richtige Entscheidung zu fliehen. Sie hoffte nur, dass ihre Großeltern ihr irgendwann verzeihen würden. Sie warf ihre Tasche auf die Erde, setzte sich auf die Fensterbank und schwang ihre Beine rüber. Erschrocken fuhr sie zusammen und schrie leise auf, als Jemand sie am Arm packte.

      „Na, mein Täubchen, ist dir etwas aus dem Fenster gefallen, als du frische Luft schnappen wolltest?”, fragte Onkel Jessim leise lachend.

      Er hob ihre Tasche vom Boden auf und drückte sie ihr in die Hände. Jetzt lachte er nicht mehr, in seiner Stimme hörte sie nur Verachtung.

      „Versuch ja nicht wegzulaufen! Wir halten schon seit Tagen ein Auge auf dich. Du wirst keine Schande über deine Familie bringen! Und jetzt geh schlafen, damit du morgen schön hübsch für deinen Bräutigam aussiehst.”

      Verzweiflung, Hilflosigkeit und Trauer übermahnten sie, als sie das Fenster wieder von innen schloss. Warum war das Leben nur so grausam zu ihr? Und wenn es einen Vater im Himmel gab, warum ließ er dann nur so etwas zu?! Schluchzend warf sie sich auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.

      *

      Sie musste wohl irgendwann im Morgengrauen eingeschlafen sein, denn sie wurde von lauten Stimmen im Haus geweckt. Langsam drehte sie sich auf den Rücken und starrte verloren auf die weiß getünchte Decke. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Sie war eben doch nur ein wehrloses Lamm.

      Die Tür in ihr Zimmer ging leise auf und ihre Großmutter kam lächelnd herein. Als sie Aigul sah, schlug sie sich erschrocken mit der Hand auf den Mund.

      „Oh, Allmächtiger! Wie siehst du denn aus?! Deine Augen sind ganz geschwollen. In zwei Stunden kommt schon dein Bräutigam!”

      Sie verdrehte die Augen zur Decke, drehte sich um und verließ eilig das Zimmer, um gleich darauf mit einem nassen Tuch und einer kleinen Schüssel wieder zu kommen.

      „Hier, das hilft bestimmt”, sagte sie und legte Aigul das nasse Tuch behutsam auf die Augen.

      Das Tuch war angenehm kühl und tat Aiguls geschwollenen Augen gut.

      „Du wirst heute eine sehr schöne Braut sein”, sagte die Großmutter und strich ihr zärtlich über die Haare.

      „Ich will noch keine Braut sein, Apa“, erwiderte Aigul müde. „Ich bin erst achtzehn und ich möchte Medizin studieren. Wozu habe ich mir sonst so viel Mühe in der Schule gegeben? Die Aufnahmeprüfung für das Studium habe ich auch schon geschafft.”

      Sie nahm sich das Tuch von den Augen und blickte ihre Großmutter traurig an.

      „Antworte mir bitte, Apa, soll das alles umsonst gewesen sein?”

      Die alte Frau senkte den Blick und starrte auf ihre Handflächen.

      „Etwas Bildung hat noch keiner Frau geschadet”, meinte sie ohne den Blick zu heben. „Du kannst ja deinen Ehemann um Erlaubnis fragen. Er hat bestimmt nichts dagegen, dass seine Frau Ärztin werden möchte. Nasar ist ein rücksichtsvoller und kluger Mann.”

      Aigul schnaubte und legte das Tuch wieder auf ihre Augen. Nach einer Weile meinte sie leise: „Du glaubst doch selber nicht was du sagst, Apa.”

      Die Großmutter sah ihre Enkeltochter an und seufzte. Sie war so jung, so schön und noch voller Träume. Aber das Leben bestand nicht nur aus Träumen. Eine Frau brauchte einen Ehemann und Kinder. Und Nasar würde bestimmt ein guter Mann für ihre kleine Taube werden.

      *

      Aigul wusste nicht, wie sie den Tag bis hierher überstanden hatte. Das ganze Theater um die Brautleute, die Worte im Standesamt, die ihr nicht über die Lippen wollten. `Ja, ich will`, sie wollte aber nicht! Sie wollte sich losreißen und wegrennen, sich in Luft auflösen und einfach nicht mehr da sein! Es kam ihr alles wie ein schrecklicher Traum vor, der nicht enden wollte. Aber den ganzen Anwesenden schien es absolut nichts auszumachen, dass die Braut gegen ihren Willen zu einer Ehe mit einem ungeliebten Mann gezwungen wurde. Nein, sie feierten, aßen, tranken und waren fröhlich, wie bei einer Liebesheirat.

      Sie spürte einen Blick auf sich und drehte den Kopf. Nasar stand etwas weiter von ihr entfernt mit den anderen Männern und hielt ein Glas Kumys (ein alkoholisches Getränk, das aus Pferdemilch zubereitet wird) in der Hand. Er war, so schien es ihr, größer und stattlicher, als alle anderen Männer, die hier anwesend waren. Er hatte fast schulterlanges, schwarzes, glänzendes Haar. Ein paar Locken fielen ihm ins Gesicht und bedeckten einen Teil von der hässlichen Narbe, die sein Gesicht verunstaltete. Die Narbe zog sich über sein rechtes Auge und verschloss es zur Hälfte, schlängelte sich in einem Zickzack über seine Wange bis zu seinem rechten Mundwinkel und zog diesen leicht nach unten. Das verlieh seinem Gesicht einen recht grimmigen Ausdruck. Nachdenklich musterte er sie gerade von oben bis unten. Als ihre Blicke sich kurz trafen, zuckte sein linker Mundwinkel leicht nach oben und