Das Gespenst der Karibik. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660774
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Fenster auf das endlose, glitzernde Meer beruhigte ihn wieder. Ihm kam es vor, als würde über ihm aller Ärger, aber auch alle unruhige Lust der letzten Woche wesenlos. Er erinnerte sich noch, mit welch ungeduldiger Sehnsucht er darauf gespannt gewesen war, zum ersten Mal das Meer zu erblicken und wie es ihm dann bei einer Reise von einer Anhöhe aus erschien, eine gewaltige, blaugrau dämmernde Wand, die über Taleinschnitten, Bergen und Wäldern stand. Es war atemberaubend, und wie ein Wilder lief er los, um sich in seine Fluten zu stürzen.

      Merkwürdig, dachte er, warum fliegen wir so tief? Fast waren die Schaumkronen auf den Wellen zu erkennen. Aber noch ehe er aufstehen konnte, um sich zu erkundigen, klopfte der Stewart an die Kabinentür und richtete ihm aus, sein Onkel wolle ihn sehen. "Im Frachtraum", fügte er hinzu und Porfirio ging kopfschüttelnd durch den leeren Salon in das Ladeabteil, wo er die Getreuen um Leonidas und den Sarg versammelt fand. Ein starker Luftzug kam von der geöffneten Tür und ließ die Haare wehen. Noch bevor sein Onkel Erklärungen geben konnte, verstand er. Seiner augenblicklichen Stimmung kam ein Seebegräbnis sehr entgegen. Wortlos näherte er sich seinem nächsten Verwandten und umarmte ihn mit einem Schluchzen, das unkontrolliert aus ihm hervorbrach. Onkel Leo sah mit einem genierten und etwas verkrampften Lächeln über seine Schulter weg auf die unter ihnen vorbeischießende grüne Flut. Dann trat er zurück, um ein paar Worte zum Abschied von seinem Bruder und Präsidenten von Santo Ignacio zu finden.

      Er mußte laut sprechen, trotzdem zerriß das Motorengeräusch und das Knattern des sich an der Luke brechenden Windes seine Rede in lächerliche Fetzen. Porfirio vernahm in unregelmäßiger Wiederholung nur die Worte "orgullo, corazòn, patria, amor, vida, sangre, muerte". Schon sein Vater hatte in seinen endlosen Ansprachen gern solche großen, leeren Worte von sich gegeben, warum kam ihm das jetzt doppelt falsch vor? Woher kam nur seine Verstimmung?

      Ach, zum Teufel damit, dachte er, man muß mitheulen, sonst ist es aus mit dem schönen Leben. Und innerlich weiter "amor, vida, sangre, patria, muerte" skandierend, packte er den hinteren Messinggriff des Sarges, der vor ihm stand wie ein Schlachtschiff zum Stapellauf, und schob ihn auf die Tür zu. Oh, er war unheimlich schwer. Zu fünft gelang es nur mit Mühe, ihn millimeterweise vorzurücken, bis er fast zur Hälfte aus der Luke ragte und der Wind an ihm zerrte und pfiff.

      "Jetzt Vorsicht," sagte der Onkel hinter Porfirio, dessen Tränen auf dem vor Anstrengung glühenden Gesicht getrocknet waren, "gleich kippt er ab."

      Und tatsächlich, Porfirio hielt noch den kalten Griff gepackt, als sich der Sarg plötzlich vor ihm hob und ihm die Füße nach hinten glitten. Voller Verwirrung hielt er sich noch an dem Sarg fest, der ihm als einzig sicherer Halt erschien und wurde mit einem Ruck hinter ihm aus der Tür geschleudert. Der Sarg überschlug sich im Sturz und Porfirio fiel hinterdrein, Meer, Himmel, Flugzeug und Totenlade kreisten wirbelnd um ihn her, dann spritzte unter dem Aufschlag des Möbels die Gischt des in grünblauen Wogen daherrollenden Meeres auf und der Präsidentschaftskandidat folgte, schoß in die Tiefe und versank wie ein Stein. Der Sarg hingegen mit dem toten General, der eine neue Bestimmung in sich fühlte, begann, nachdem er eine gewisse Tiefe erreicht hatte, wieder Auftrieb zu spüren und während der Sohn hinabglitt, stieg der Vater wieder langsam zu Tage. Auf halbem Weg begegneten sie sich, um sich für immer zu trennen. So sah es also aus, das ewige Leben! Der tote General begann dunkel das chinesische Sprichwort zu verstehen: Der Sohn ist älter als der Vater. Das war also die Ewigkeit, so leer, so gespenstisch leer!

      In der Folgezeit sprachen die Karibikfischer beim Voodoozauber von einer neuen Erscheinung: In hellen Mondnächten preschte ein grünlich leuchtendes, uniformiertes Gespenst auf einem Sarg reitend über die Fluten. Wer ihm begegnete, mußte früher oder später abschrammen. Das war leider unvermeidlich.

      ---

      Einige Monate später saß Onkel Leonidas frühstückend auf der besonnten Terrasse eines portugiesischen Hotels. Sein Blick schweifte über den atlantischen Ozean, dessen Wellen am Fuß der Felsen brandeten.

      Ein herrlicher Morgen war das. Über den Wassern lag noch ein leichter Dunst, in dem zuweilen schattenhaft Schiffe zu erkennen waren, die dem Hafen von Lissabon zustrebten. Vögel zwitscherten ihre naiven Weisen, das Kaffeegeschirr blitzte in der Sonne. Er betrachtete mit versonnenem Vergnügen die reifen weiblichen Formen Adelaides neben sich, die aufs Meer hinaussah.

      "Sieh mal dies Schiff," sagte sie zu Leo und deutete auf eine entfernte Silhouette, "sieht aus wie ein Sarg." Da gehört er rein, dachte sie bei sich. Wie er sich heute nacht wieder aufgeführt hatte, als müßte man ihm die Stiefel lecken. Nur weil er reich war.

      Leo strich sich eine dicke Schicht Ingwermarmelade auf den Toast. War ziemlich mühsam gewesen, sie hier zu bekommen. Nicht gerade eine Spezialität des Landes. Aber eine Familienerinnerung. Neben der Lust an der Macht die einzige Vorliebe, die er mit seinem Bruder geteilt hatte. Er sah zerstreut von seiner Tätigkeit auf und meinte: "Wird wohl ein Container-Schiff sein."

      "Kannst du dir vorstellen, daß mein Bruder und ich uns immer um die Ingwermarmelade gestritten haben, als wir klein waren", fuhr er fort.

      "Das widerliche Zeug," bemerkte Adelaide wegwerfend, "kann ich nicht verstehen." Sie empfand das dringende Bedürfnis, ihn zu verletzen. Leonidas spürte den Stachel. Seine gute Laune schlug um.

      "Kannst du dir vorstellen", fuhr er in düster schneidendem Ton fort, "daß ich ihn deswegen habe umbringen lassen."

      "Ach geh, das kann ich nicht glauben, Dickerchen. Du kannst doch keiner Fliege etwas zuleide tun!" erwiderte sie, um ihn zu reizen.

      Das war zuviel. Onkel Leo kochte. Dieses dumme blonde angelsächsische Weibsstück mußte man einmal einen Blick in die Abgründe Lateinamerikas werfen lassen. Wenn er auch als Mann nicht mehr viel bei ihr ausrichten konnte, so sollte sie ihn doch nicht herablassend behandeln. Grausen sollte sie es vor ihm! Und nun beichtete er einem (zugegeben) teuren Callgirl (aber sie war ihr Geld wert!), deren Augen sich immer ungläubiger weiteten, alle seine Morde: Wie er seinen von Kindheit auf gehaßten älteren Bruder Rodolfo, den Präsidenten von Santo Ignacio ("Was soll das sein?") mit Hilfe von CIA-Agenten aus politischen Gründen, von denen sie sowieso nichts verstehen würde, hatte umlegen lassen, beim Frühstück, hahaha, wie ihn diese CIA-Bande aber betrogen habe und dem Führer der Linkspartei Vargas statt seiner Gruppe zur Macht verholfen habe. Wie er sofort nach dem Attentat festgenommen und mitsamt der Bruderleiche abgeschoben worden sei. Wie er mit seinem Neffen, seiner Leibwache und der einbalsamierten Leiche von Land zu Land geflogen sei, um sie irgendwo zu bestatten, von wo man sie einmal als Reliquie hätte herausholen können, um sie dem begeisterten Volk zu zeigen, sie solle an Evita Peròn denken - ("Kenn' ich nicht.") und ihm dann Porfirio als Sohn und rechtmäßigem Nachfolger zu präsentieren. Er selbst sei ja schon siebzig gewesen.

      "Ach geh, " meinte Adelaide spitz, "das erfindest du doch alles nur, um dich interessant zu machen. Sowas gibt's doch gar nicht!"

      Onkel Leo fuhr ungeachtet seines inneren Grimms fort, irgendwann mußte selbst bei der Dümmsten der Groschen fallen: Das sei aber völlig fehlgeschlagen. Weil sein Bruder ein so berüchtigtes Scheusal gewesen sei, habe sich kein Land bereitgefunden, seine geheiligte Erde mit seiner Leiche zu entweihen, so wäre ihm in seiner Verzweiflung schließlich eingefallen, sie vom Flugzeug aus ins Meer zu werfen.

      "Nun sag' doch aber, Leo. Selbst im Scherz...." Adelaide fand es allmählich geschmacklos.

      "Hör' zu, dummes Stück!" donnerte Onkel Leo so laut, daß sich zwei Knittergreise sechs Tische weiter erstaunt umsahen. Leo dämpfte seine Stimme: Sein Neffe, sei ihm mit der Zeit aber doch ziemlich überflüssig vorgekommen. Er sei das Gefühl nicht losgeworden, Porfirio wüßte, wer seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Einmal habe er im Schlaf "Hamlet, Hamlet!" gestöhnt, da habe es für Leo festgestanden, daß er bald irgendwie verschwinden mußte. Und die Gelegenheit dazu habe sich ganz von selbst ergeben. Als Porfirio mit seiner Wache zusammen den Sarg aus dem Flugzeug wuchtete, habe er, das heißt genau genommen einer seiner body-guards, ihm ein Bein gestellt und ab ging's mit ihm ins Meer. Es sei nicht schade um ihn gewesen, ein Mädchenschänder weniger!

      Adelaide hielt es nicht länger aus, sie lachte schrill auf. Onkel Leo konnte tief in ihren rosigen Rachen sehen, in dem das Zäpfchen auf und nieder schnellte. Gerade wollte er ihr eine