Das Gespenst der Karibik. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660774
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einer Vollmondnacht war einst der General über den weißen Kies des hauptstädtischen Gefängnishofes auf den Trakt der Todeszellen zugeschritten. Über seinem Kopf stand scharf ausgeschnitten, kreisrund die blendende Scheibe und erhellte einen gläsernen, schwarzblauen Abgrund rings um sich. Er schien wie ein Trichter, in den alle Erinnerungen, die Freuden und Leiden der Vergangenheit und die Hoffnungen der Zukunft hineingezogen wurden. Als der General schließlich vor seinem wegen Hochverrats verurteilten Freund stand, um ihm ein Abschiedswort zu sagen, war sein Gehirn völlig leer. Er erinnerte sich an nichts, wußte kaum noch, wer vor ihm saß, konnte nichts Bedeutendes formulieren, während er mit seinen glänzenden Schaftstiefeln vor dem auf der Pritsche sitzenden Todeskandidaten auf und ab schritt. Der Gefangene wartete auf etwas, vielleicht einen Gnadenspruch, vielleicht hoffte er, den Donner des Zorns zu vernehmen, der die dürren Worte des Todesurteils vermenschlicht hätte. Aber sein ehemaliger Freund und Kampfgenosse schritt weiter gedankenleer auf und ab. Das Licht der Scheinwerfer löste seinen Schatten in kristallene Überschneidungen auf, die kreuz und quer über das offene Hemd des Verurteilten glitten. Schließlich rang sich in dem General etwas hoch, er beugte sich zu dem Zusammengesunkenen hinunter, packte seine Schultern und flüsterte mit einer Stimme wie zerbrechendes Glas die Worte: "Du bist mir doch nicht böse, Carlos...?" Da gurgelte es im Hals des Delinquenten, etwas, das vielleicht "nein" hieß, das aber anhielt wie ein Schrei, dabei klammerte er sich an den General, wie um ihn zu umarmen oder zu erwürgen, doch dauerte es kaum zwei Sekunden, da hatten die Wärter die Tür aufgerissen und seine Hände vom Hals des Präsidenten gerissen. Brüllend warf er sich zwischen den Soldaten, die ihn hinausschleiften, hin und her. Eine Minute später prasselten Schüsse auf dem Hof, und der Schrei starb mit ihnen.

      Das geheime Einverständnis mit dem Mond setzte sich fort. Die Totenlade bekam Flügel und schoß in den Nachthimmel hinauf. Durch die Luken des Frachtraumes fiel Silberlicht und umglänzte den Sarg. Schwerelos schwebte der General zwischen Himmel und Erde. Manchmal schien die schwachleuchtende Fläche des Meeres umzukippen, während der Mond herabsackte, dann wieder entschwand er in unerreichbare Höhen, nur seine Spiegelung in gerippten Wellen begleitete das Flugzeug ständig. Wo der Himmel schwarz war, wimmelten Sterne.

      Gläserne Schlaflosigkeit dehnte sich im Passagierraum. Die verbannte alte Junta lag, erschöpft von den Anstrengungen und Schrecken der letzten Tage, kreuz und quer in den Sitzen. Mit rotgeränderten Augen sah man in die Nacht hinaus und kam sich vor wie in einem sich endlos fortträumenden Traum. Dem künftigen Präsidenten war, als würde die Reise zum Grabe des Vaters eine Weltraumfahrt, in der sich Sterne wie Inseln zur Ruhe anböten. Doch wie weit war es dahin und ehe man dort war, war man vielleicht selbst schon tot. Der Gedanke überfiel ihn mit erschreckender Wucht: Tote, die einen Toten begleiten! So sah er endlose Prozessionen wie schwarze Würmer durch das Universum kriechen.

      Das monotone Brummen der Motoren schläferte ihn ein, doch hielt er die brennenden Augen auf die Tür zum Frachtraum geheftet, als könnte er, wenn er nur wach und aufmerksam bliebe, den Toten dahinter festbannen und alle schlimmen Gedanken, die er einflößte.

      Doch es war vergeblich. Es war, als bräche er mit seiner verzweifelten Anstrengung, ihn draußen zu halten, die Klinke ab. Beharrlich und langsam öffnete sich die Tür und aus dem spukhaften Dämmer, den die Mondstrahlen um den Sarg webten, schwebte der General in seiner kostbaren, grünlich aufglühenden Uniform durch den Raum. Blut tropfte aus Löchern in der ordenbesetzten Jacke. Seine Augen waren geschlossen. Mit der preziösen Fingerhaltung gotischer Statuen wies er auf seine Wunden.

      "Ecce homo", seufzte sein Sohn und fuhr auf. Die Tür zum Frachtraum stand dunkel und geschlossen am Ende des Ganges. Das Mondlicht glitzerte auf dem Meer und blendete ihn. Er zog die Vorhänge vor das Fenster und dämmerte vor sich hin.

      Später träumte er, daß er in hellstem Licht Arm in Arm mit seinem Vater auf ein pompöses Grabmal zuschritt. Der General schleifte die Füße nach, schließlich mußte ihn Porfirio unter die Achseln packen, am Ende schleppte er ihn auf dem Rücken dem gähnenden Loch der Gruft entgegen, über dem sich barocke Skulpturen aufreckten. Allmählich nahm das Gewicht zu, er ging in die Knie, versuchte sich noch einmal hochzustemmen und brach zusammen. Sein Vater war Marmor geworden.

      Vom Kreischen und Poltern der aufsetzenden Maschine geweckt, schreckte er auf und sah die Positionslichter der Rollbahn des Airports von Miami an sich vorüberschießen. Ihm war wirr zumute, seine Glieder schmerzten, kaum verstand er die aufgeregten Anweisungen der Mitreisenden. Er wurde völlig übergangen, als zähle seine Anwesenheit nicht. Sein Onkel tauchte bleich aus dem Funkraum auf und wandte sich an den Ko-Piloten, der mit den Achseln zuckte, während das Flugzeug auslief.

      Schließlich gelang es Porfirio, seine Benommenheit abzuschütteln, er drängte sich zu seinem Onkel durch und fragte, was los sei.

      "Sie lassen uns nicht einreisen," sagte der Onkel, "wir müssen es woanders versuchen."

      "Aber der Grabplatz ist doch schon bestellt."

      "Sie wollen ihn nicht haben, die verdammten Yankees", zischte Leo, "wir fliegen nach Quebec. Geh schlafen, mein Junge", sagte er versöhnlich, "wir müssen noch nachtanken lassen."

      Und wieder erhob sich der Unglücksvogel in die Nacht. Es war inzwischen zwei Uhr. Man hatte gegessen und war nun beim Whisky. Hatte vor der Landung in Miami jeder für sich schlafend und vor sich hin brütend dagesessen, während die Gleichgültigkeit der Erschöpfung sie überfiel, so drängte sie nun die Ungewißheit, was geschehen sollte, zusammen. Über Funk hatte man den Botschafter Santo Ignacios, einen alten Familienfreund, angewiesen, er solle ein Begräbnis erster Klasse auf einem upper-class-Friedhof bestellen sowie eine Einreisegenehmigung. Jetzt wartete man sorgenvoll auf seine Antwort. Unter ihnen wellten sich dunkle Gebirgsmassen, Lichterhaufen glitzerten wie Diamanten und die Perlenschnüre beleuchteter Straßen zogen sich sternförmig ins Dunkel hinein.

      Der Whisky tat allmählich seine Wirkung. An allen Gedanken aber hing der tote General wie ein Bleigewicht. Man freute sich zwar, mit heiler Haut davongekommen zu sein, nachdem der geheimnisvolle Mord ihren Beschützer weggeräumt hatte, unklar blieb, wer dafür verantwortlich war. War doch nur dem engsten Kreis bekannt, wo der Diktator sich jeweils aufhielt. Des Rätselratens müde, sprach man der Flasche zu. Doch wurde das Wohlgefühl des Rausches immer wieder durch die Sorge um die Zukunft getrübt. Das Flugzeug Onkel Leos war eine Insel der Sicherheit, aber man mußte bald wieder herunter auf die gefahrvolle Erde.

      Schmutzige Verräter, dachte Onkel Leo, aber ich werde es ihnen noch heimzahlen! Heimlich knirschte er mit den Zähnen und sah von der Seite seinen Neffen, dieses ahnunglose Bürschchen, an, dessen hübsches, von sportlicher Betätigung an frischer Luft gebräuntes Gesicht bleich und abgespannt wirkte. Er hatte sich ja nie um irgendetwas kümmern müssen. Papa bezahlte ihm seine Pferde und Rennwagen. Ihm war nur untersagt, die Töchter der Oberschicht zu schwängern. Dafür hatte er Auslauf genug in Paris und Nizza. Und auf so etwas bin ich nun angewiesen, stöhnte Leonidas.

      In den Whisky-Träumen seines Neffen tanzten nackte Mädchen mit Skeletten. Dann war Porfirio, er läge auf einer Bahre, die vorn sein durchlöcherter Vater und hinten sein Onkel trugen. Plötzlich ließ Leo die Griffe fahren und da der Vater, ohne sich umzusehen, weiterschritt, rutschte er von der Bahre und schlug mit dem Kopf auf den Boden auf.

      "Porfirio, trink doch nicht so viel," schimpfte sein Onkel und hob ihn mit Hilfe eines Stewarts in den Sessel zurück, von dem er heruntergeglitten war.

      Auf ein Bett in einer der Schlafkabinen gelegt, erschien ihm wieder sein Vater. Diesmal erkannte er ihn sofort als Traumgestalt, wachte entschlossen auf und keuchte: "Wie lange soll das denn noch weitergehen? Kann er mich nicht in Ruhe lassen? Tot ist doch tot. Und was soll dieses dumme Hamlet-Hamlet-Gestöhne?"

      Er stutzte und fragte sich, wie er darauf gekommen war. Hatte er das eben erfunden oder war es eine Erinnerung an den entschwundenen Traum? Ich träume doch sonst kaum, das muß dieser verdammte Whisky sein, sagte er sich und um nicht weiter an den Toten zu denken, starrte er intensiv aus dem Fenster, als könnte ihn der Anblick der im Dunst daliegenden Erde wachhalten.

      Im Osten erschien eine trübe Helligkeit, die allmählich auf die Himmelsfläche überging. Das nüchterne, bleiche Dämmerlicht ekelte ihn an. Dann schüttelte er