Das Gespenst der Karibik. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660774
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Müller, haben Sie das Licht im Flur ausgemacht?" Seltsam und fremd schwebte ihre Stimme ins Dunkel und stand vor ihren Augen wie eine Leuchtschrift. Etwas knackte im Nebenzimmer und durch die eröffnete Stille drängte sich eine Antwort, die sie aber nicht mehr wahrnahm, denn Herr Müller existierte in eben diesem Moment nicht mehr, er war ausgestrichen. Seine Erwiderung hatte ihn umgebracht. Und nun entfaltete sich die Leere um sie wie ein Ballon und bald spürte sie das Zucken und Quellen, mit dem er nach oben strebte. An einem dünnen Seil baumelnd entschwand sie in der Finsternis. Fest hielt sie die Arme auf die Bettdecke gepreßt. Das Muster trat in die Haut ein und Leichenstarre zog sich von den Fingern in die Arme und Schultern. Sie lag wie angeschraubt. Und unter ihr war der Abgrund. Sie schüttelte den Kopf, sie war doch noch wach. "Herr Müller," wollte sie rufen, doch sie besann sich. Aber es war schon zu spät. Herr Müller erschien in der Zwischentür, die sich teilte wie Rauchschwaden, mit glühenden Augen und Muskeln wie ein Preisboxer brach er ein und griff nach ihr, aber im gleichen Augenblick tötete ihn die Ironie Fräulein Cybulkas. Sie lächelte bitter. Eisig stand der Raum im grauen Schein des blinden Fensters, das sinnlos in der Höhe schwebte. Sie sah sich um und erkannte, daß alle Möbel fort waren, alles war leer, nur das Bett blieb ihr. Daran hatte sie ein traurigsüßes Vergnügen. Tränen benetzten ihre Augen. Aber bevor sie auskosten konnte, daß sie nichts hatte, nichts, kein Geld, kein Haus, kein Talent, keinen Menschen, nicht einmal eine Katze, war alles um sie her wieder braun und nüchtern. Aus dem Dunkel lösten sich die Konturen des Kleiderschranks und der Kommode, der Spiegel blinkte und selbst das Tapetenmuster trat ihr dicht vor die Augen, als ginge es ab und legte sich wie ein Netz um sie. Es war so still... Wenn er nun sterben würde! Eine Mischung aus Neugier, Schadenfreude und Sadismus erhob sie. Wenn er nun sterben würde und ich läge hier, ganz ruhig, kalt, ohne daß es mich anginge. Sie hatte nicht einmal Herzklopfen bei dem Gedanken. Der Tod war eine gute Lösung und so feierlich. Man fühlte sich groß und erhaben, man vergaß die unglücklichen Umstände, Sorgen und Kleinigkeiten, das Keifen der Nachbarn und die Angst vor dem Morgen. Sie erinnerte sich noch deutlich an den Tag, an dem man ihre ertrunkene Freundin Elli im obersten Teil des Friedhofs begraben hatte. Nie hätte sie geglaubt, daß dieses Ereignis so viele Menschen angehen würde. Sie hatte gedacht, sie müßte die einzige sein. Zahllose schwarzgekleidete, schwitzende Gestalten schleppten sich durch die streng riechenden Gänge der Taxushecken auf die Höhe hinauf. Alte Weiber, knochige Männer mit verdrossenen Mienen. Sie ging klein und stumpf unter der Herde der Befrackten, sie hatte ihr braunes Kleid an, ein schwarzes besaß sie nicht, und fühlte sich unbehaglich und bedeutungsvoll. Sie war ihre beste, vielleicht ihre einzige Freundin gewesen. Aber niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Der Schmerz war Monopol der Verwandten. Von den Trauernden kannte sie nur die Eltern. Beim Kondolieren gab ihr der Vater die Hand mit einem leeren Blick, als hätte er sie noch nie gesehen. Und dann trieb sie mit den anderen fort, die bald die Sprache wiederfanden, von dem Preis der Kränze und der Aufschrift auf den Schleifen murmelten, durch die engen Gassen, die die schwarzen Hecken ließen, an verunkrauteten Gräbern, bemoosten Leichensteinen und vergilbtem Marmor vorbei. Durch die Lücke, die eine Pappelallee schnitt, sah sie den Fluß blinken, bleiern und tot unter dem von Hitze entfärbten Augusthimmel. Wie an dem Abend, an dem Elli beim Baden verschwunden war. Niemand wollte glauben, daß sie ertrunken sein könnte. Aber wo konnte sie sonst geblieben sein, als die Nacht schon eingebrochen war? Ihre Kleider lagen an der Stelle, an der sie sich ausgezogen hatte, und niemand begriff, daß die Sachen liegenbleiben würden, wenn sich keiner entschlösse, sie mitzunehmen. Das rosa Kunstseidenkleid, Unterrock, Schlüpfer, Büstenhalter, Schuhe, Handtuch. Sie spürte Verlangen, sie ihr in den Fluß nachzuwerfen. Aber schließlich packte sie jemand mit herzzerreißender Pedanterie zusammen und brachte sie gebündelt zu den Eltern. Sie war dieser Person böse. Nie würde sie diese feierliche Erregung verstehen. Aber später befiel sie die gleiche Stumpfheit. Der Tod war eine Tatsache wie alle anderen. Wieviele Leute hatte sie inzwischen schon zu Grabe geleitet! Einkaufen, sich waschen, arbeiten, reden, essen, trinken, sterben, es war doch alles gleich. Das Schlimmste war, daß ihr auch ihr Klavierspiel gleichgültig wurde. Sie spielte und spielte, ohne hinzuhören. In ihren Ohren summte die Stille, während die Hände über die Tasten wanderten. Das erschreckte sie und trieb sie vom Klavierhocker aus dem Haus. Aber auch draußen umfing sie die Leere. Sie saß allein neben anderen einsamen Gestalten auf der Parkbank, während der Staub über die Wege wirbelte. Man nannte sie im Haus verschroben und schlampig. Wenn schon! Ihr war es egal. Mochten andere den Putzlappen schwingen, sie war Künstlerin, sie hatte anderes zu tun. Für den ungebildeten Herrn Müller war sie wohl eine alte Ziege. Sie hatte sein Geschimpf einmal durch die Tür dringen hören. Und was war er? Ein alter Orang Utan, mit seiner behaarten Brust! Ihre Mutter hatte noch kurz vor ihrem Tode die alte Geschichte mit Wagner ausgegraben und ihr Vorwürfe gemacht, daß sie ihn hatte gehen lassen. Wagner mit seiner unausstehlichen Genauigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner Geldgier! Aber mit fünfundreißig war sie schon zu alt gewesen, ihren Charakter zu verleugnen und nach seinem Muster die gehorsame Gattin zu spielen. Nun war sie für eine Ehe wirklich zu alt. Wagner war auch schon tot. Herzschlag. Am Ende war er Mühlendirektor gewesen, ließ sich chauffieren und grüßte sie bei den seltenen Gelegenheiten, an denen sie sich sahen - Theaterabonnement, Konzerte - trübe und ironisch. Seine Frau war ein Kloß mit rotem Schopf. Der Kloß lebte noch. Frauen leben halt immer länger. Es war doch immer das Gleiche. Schon mit zwanzig hatte sie in diesem Bett gelegen und die Zeit tropfte mit der gleichen Zähigkeit herab, und sie hatte sich gesagt, so könne es nicht weitergehen. Selbstmordphantasien hielten sie wach und erst im Morgengrauen erschlug sie der Schlaf. Dann war sie dreißig, sie erinnerte sich der Verzweiflung, die sie mit zwanzig empfunden hatte, sie bemühte sich, diese Stimmung wieder einzufangen, in der sie so entschlossen hatte denken können. Aber was sie dann fühlte, hatte nicht mehr die gleiche Intensität, es war das Gefühl eines Gefühls, sozusagen die Kopie des ersten. Sie wurde sechsundreißig, und ihr fuhr ein Stich durch?s Herz. So konnte es auf keinen Fall weitergehen. Aber am Morgen ihres Geburtstages wachte sie so unverändert auf wie an jedem anderen Tag und hatte keinen Willen, keine Pläne mehr. Und endlich war sie vierzig, wovon man sagt, dann finge das Leben an und tatsächlich hatte sie Chancen, Professorin am Konservatorium zu werden, aber es wurde nichts daraus, weil sie sich weigerte, eine Gefälligkeit durch eine andere zu vergelten. So erzählte sie es jedenfalls jedem, der es wissen wollte. Sie erneuerte das Schild an ihrem Fenster: M. Cybulka Klavier- und Geigenunterricht. Dreizehn Jahre hing es nun schon da, vergilbt und krumm. Schon längst wollte sie es gegen ein Messingschild austauschen. Aber sie vergaß es immer wieder. Die Nacht wurde dunkler. Wie Teer floß sie durchs Fenster. Sie war so müde. Morgen würde sie Herrn Müller sagen, daß er bleiben könnte, wenn er wollte. Nach diesem Entschluß fühlte sie sich erleichtert, eine angenehme Mattigkeit kroch in ihr hoch. Tam tam tam. Sie ließ sich willkürlich verdummen. Manchmal ertappte sie sich, wie sie einen Ton anschlug, immer den gleichen, er verbreitete sich wie Wellen um einen Stein. Tam, das war so einfach, so selbstverständlich, sie konnte sich darin vergessen, ein Meer, das sich für sie öffnete. Sie hätte ertrinken sollen, nicht Elli, sie hätte es besser gekonnt. In Kleidern, nicht so nackt. Tom toom tom. Sie hatte ihre Schüler, die hielten sie am Leben, es war nicht anstrengend, aber sie war so müde. Alles hätte sie aufgeben mögen, um nur noch auf diesen einzigen Ton zu lauschen. Und dann schlief sie wie ein Stein. Der Morgen war wie ein schlechter Einfall, eine welke Erinnerung an tausend andere Morgen. Sie hatte Mühe, sich auf gestern zu besinnen. Die jungen Pappeln vor dem Schlafzimmerfenster bewegten sich anmutig im Winde. Der Anblick stärkte sie. Der Himmel über den flirrenden silbergrünen Blättern war tiefblau, er saugte den Blick an. Aber alles gab gleich wieder nach, etwas brach immerzu unter ihr weg. Und doch standen die Bäume da, von einem Augenblick zum anderen war der Himmel da, ohne Aufhören da. Er würde stets sein, über den Dächern, über den Wolken, auch nach ihrem Leben. Es war schwer, von ihm wegzusehen. Doch sie schloß die Augen. Bedrückung ergriff sie vor der Faßlichkeit und Lebendigkeit des Grüns. Sie meinte den bitteren Saft zu riechen, den Geruch des Krauts an schwülen Orten zwischen den Sträuchern, wo sich der Körper wie ein Buch aufschlägt. Wo Sinnlichkeit über dich fließt wie eine dunkle Welle. Dort hatte die Wollust sie aufgebrochen. Ein Punkt innen und eine sich ins Ungeheure blähende Haut außen, die Blätter, Blüten, Wipfel, Wolken, Sonne und Himmelsblau umfaßte. Etwas flog ständig vor ihr her. Sie konnte es nicht erreichen, es flog und flog. Sie konnte nicht an ihre Grenze gelangen. Sie wollte sich halten und sauste in verschiedene Richtungen davon. In ihr war ein halbes, leeres, kicherndes Ringen um Erkenntnis, doch wurde