Das Gespenst der Karibik. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660774
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des Wäldchens hinter dem Sportplatz entjungfert hatte. Wer war er schon? Er war dumm und tierisch. Ihre Neugier hatte sie verführt, sie wollte schließlich auch wissen, was es war, womit Elli so angab. Im Studium erst hatte sie eine zweite Freundschaft. Sie wollte gar nicht, aber es mußte wohl so sein. Jemand, der so hübsch war wie sie, konnte sich der Werbung all dieser Männer nicht entziehen, mit denen sie täglich zusammenarbeitete. Doch sie schlief mit ihrem Kommilitonen nur, weil es dazu gehörte. Es war bei all den beengten Umstnden, in denen Studenten leben, unbequem und etwas unsauber. Am Ende empfand sie eine dünne Langweile, deren Ursache sie nicht erkennen konnte. Er war ein bemühter, ernster Mann, den der Erfolg bald von ihr wegführte. Sie hatte auch nicht die Kraft, ihn bei sich zu halten. Sie wußte, was ihr fehlte. Sie war unfähig, ihre Ironie zu bändigen und wenn die Männer, diese Sexautomaten, sich von ihr abwandten, dann mischte sich in den unwillkürlichen Schmerz eine leise Genugtuung, eine banale Erleichterung. Allmählich spürte sie, daß sie dem normalen Leben - ach Gott, was war schon normal! - nicht gewachsen war. Sie verzichtete darauf mit dem eigentümlichen Willen der Schwachen. Sie hatte das Leben ernst genommen, so ernst, daß sie keine Unternehmung wagte, die ihre Kräfte, wie sie glaubte, zu sehr beanspruchte. Das nannte man realistisch denken! Wenn dadurch nur ihre Musik besser geworden wäre! Aber sie brachte es zu keiner großen Leistung, weil sie vor der Übereinstimmung von Leidenschaft und Leistung zurückschreckte. Alles Üben half nichts. Sie erlebte nichts, weil sie nichts konnte, und sie konnte nichts, weil sie nichts erlebte. Sie kam darüber nicht hinaus. Sie litt daran. Sie durfte doch nicht so hilflos aus der Welt fallen. Sie war nicht krank, im Gegenteil, sie besaß eine so eiserne Gesundheit, daß es ihr fast langweilig wurde. Die Gesundheit hielt sogar ihre Schlaflosigkeit und Nervosität aus. Es hungerte sie nach dem Unmöglichen, aber die Welt war voll von den Steinen des Möglichen. Das Mögliche hielt sie fest wie die Gesundheit. Es war eben da, wie das von den Eltern ererbte Mobiliar da war, die Untermieter, das spärliche, aber ausreichende Einkommen durch den Musikunterricht. Es gelang ihr nicht, aus dem Möglichen auszubrechen, so wenig wie es einem Fisch gelingt zu ertrinken. Sie hätte sich diese Fragen gar nicht gestellt, wenn sie ihrer beruflichen Fähigkeiten wirklich sicher gewesen wäre. Aber obgleich sie früher einmal eine Meisterin am Klavier gewesen war, geschah es immer wieder, daß sie über Passagen stolperte, die einem Anfänger ein Lächeln abgenötigt hätten. Sie verlas sich, lebte oft in einer unbeschreiblichen Verwirrung, aus der die Schüler sie aufweckten, um sie sogleich in eine neue zu stürzen. Vergeßlichkeit legte sich wie Morphiumschlaf um sie. Die im Morgenwind rauschenden Pappeln hatten eine ärgerliche Gewißheit, sie waren aufdringlich in ihrem Dasein. Sie waren notwendig so, wie sie und wo sie waren. Sie waren nicht wegzudenken, während sie sich selbst sehr wohl wegdenken konnte, fühlte sie sich doch von allen vergessen. Notwendigkeit, das war auch ihr Begriff von Gott. Sie glaubte an gar nichts, sie ging zur Kirche nur, um jemand zu begleiten, und hielt die ganze Sündenvergeberei für eitle Anmaßung der Priester. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie war wohl launisch, aber auch gut. Sie war geizig, weil sie sparsam sein mußte, aber sie konnte auch schenken, wenn sie genug Geld hatte. Das Leben hatte sie betrogen, aber sie konnte sich bei niemand beschweren. Es war einfach notwendig so gekommen. So und nichts anders, immer so, ob sie nun die Faust reckte oder Mendelssohn spielte oder kochte oder verzweifelte oder schlief oder eine kleine Reise machte. Plötzlich fühlte sie wunderbar die Übereinstimmung der sanften Bewegungen der Bäume mit ihrem Innern, es war so fest in sie eingebaut, als habe sie es selbst erfunden. Weiß Gott, sie bildete sich auf nichts, das sie machte, etwas ein, nicht einmal, um sich das Leben zu erleichtern. Sie war illusionslos, weil sie sich zur Genüge kannte. Sie tat alles, weil es notwendig war, z.B. war es notwendig, daß sie sich in ständiger Übung hielt, daß sie täglich in ihrem alten brauntapezierten Zimmer spielte, das von den Klängen widerhallte. Oft fiel sie in den Abgrund zwischen ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit und der Bedeutung dessen, was sie spielte. Ihre Hände lagen fern vor ihr auf den Tasten, aber ihre Augen waren irgendwo hinter dem Mond. Sie war die Leere selbst. Wie eine gefangene Fliege in einem Marmeladenglas schwirrte sie umher, krabbelte sie auf dem Glas, das sie von der Welt draußen trennte. Und doch entstand dabei ein schwebendes Gefühl, als blättere ein zäher, alter Anstrich von ihrem Inneren ab. Sie fühlte diese Nacktheit als Befreiung. Aber das war doch schamlos! Etwas erfüllte sie mit Gier, die Töne kamen schwer und gesättigt auf sie zu, sie genoß. Sie wurde sinnlich, schwermütig, hörig von Musik. Die längst bekannte leere Abfolge der Noten schoß zu einem Körper zusammen, der sie vergewaltigte. Daß sie sich gegen diese Überwältigung gewehrt hatte, hatte sie gehindert, eine große Künstlerin zu werden. Auch hatte sie der Exhibitionismus des Podiums gestört, die Zurschaustellung vor dem Publikum. Eigentlich war die Musik etwas Eisiges, Fremdes, Fernes, das jeder Zudringlichkeit entzogen war. Sie hatte von ihr die ungeteilten Wonnen des Geistes erwartet, aber die Musik hatte etwas zweideutig Verführerisches, einen scheinheiligen Körper. Musik war falsch. Vielleicht hatte sie sie auch immer falsch beurteilt. Oder war sie vielleicht einfach unmusikalisch? Auf welche Dummheiten sie doch kam! Sie lächelte in den lichten Morgen hinein. Der Himmel war durchsichtig, von Glanz durchschossen, ein betäubender Rausch erfaßte sie, je länger sie hineinstarrte. Sie wartete immer noch auf etwas, etwas, das ihre Illusionslosigkeit besiegen könnte. Sie ahnte ein Glück, das ihr wohl nie zukommen würde, das aber existierte, ebenso notwendig existierte, wie es notwendig war, daß es gedacht wurde. Etwas, das von allem Mißtrauen befreit war, so leicht, daß es sogar nichts von seiner Gewichtslosigkeit mehr wußte. Eine Feder, ein Zirruswölkchen von Glück. Sie erinnerte sich an eine Melodie von Schubert, die dem nahekam, was sie fühlte, aber nicht einmal dieser Meister hatte es getroffen. Doch in ihrer Hilflosigkeit, es darzustellen, wurde sie plötzlich selbstbewußt. Sie lachte ungläubig. Sie stand auf und alles, was sie anfaßte und ansah, schwamm um sie wie in einer sehr klaren Flüssigkeit. Der Spiegel schwebte an ihr vorbei, Schranktüren öffneten und schlossen sich, bunte Kleidungsstücke flogen an sie heran, die Bürste bewegte sich energisch durch ihre Haare. Sie summte vor sich hin, während sie den Kaffee kochte, Brötchen strich, das Tablett in den Salon trug, ein buntes Service aus dem Glasschrank nahm. Sie setzte sich zeremoniös nieder und aß vorsichtig ihr Frühstücksei, ohne zu kleckern. Der Kaffee erfrischte sie. Sonnenschein überschwemmte die breite Parkettfläche zwischen den hohen Fenstern und dem Eßtisch. Sonnenstäubchen schwebten in den Strahlen aufblitzend auf und nieder. Als sie dann ihre erste Zigarette rauchte, überfiel sie der Gedanke, daß sie Herrn Müller Unrecht getan, ihn beschämt und gequält hatte. Sie würde ihm zur Abbitte das Frühstück in sein Zimmer bringen und die Kündigung zurücknehmen. Ja, das würde sie tun, auch wenn es sie Überwindung kosten würde! Aber merkwürdigerweise empfand sie keinen Unwillen, als sie das Wasser aufsetzte, Brot schnitt und das Geschirr zusammenstellte. In ihr war eine geschäftige, freudige Ruhe, während sie das Sieden des Wassers überwachte, den Kaffee aufgoß, das Ei weich kochte, Wurst und Käse schnitt und sorgfältig auf dem Teller ordnete. Sie schob alles auf dem Tablett zurecht und packte es mit beiden Händen. Es war ein ungewohntes Gewicht, mit allem, was sie darauf versammelt hatte: Honig, Marmelade, zwei Sorten Käse, Wurst, Ei, Weißbrot, Schwarzbrot, Brötchen, Kaffee, Zucker und Milch, den Schinken nicht zu vergessen. Er war ein großer Kerl, der gewiß Hunger hatte. Damit kam sie an das Ende des Flurs, und die Tür zu Herrn Müllers Zimmer bot sich als braune, abweisende Fläche dar. Sie verharrte zögernd einen Augenblick, dann setzte sie das Tablett mit einer Ecke auf die Klinke und klopfte entschlossen. Keine Antwort. Sie rief. Stille. Dann öffnete sie kurzerhand und trat ein. Der Widerschein der rötlichen Ziegelwände, die von der Morgensonne hell beleuchtet waren, fiel über das Bett, aus dem Herr Müller hing. Sein Kopf und sein rechter Arm baumelten an der Bettseite, Blut war dem Mund entströmt und bedeckte rostig geronnen Kinn, Wange, Laken und Fußboden. Er war tief in der Nacht gestorben. Er starb aus Ärger, Verzweiflung, Einsamkeit, Krankheit und eigentlich aus Protest. Aber genau genommen wollte er doch nicht sterben, aber als er sich dagegen aufbäumte, war der Drang in ihm zu groß geworden, es zog ihn abwärts wie eine Lawine. Und als er endlich nach Fräulein Cybulka rufen wollte, drang nur ein Röcheln aus seiner Brust und ein Blutsturz erstickte seine Stimme. Fräulein Cybulka warf das Geschirr nicht hin. Sie wendete sich vorsichtig um und setzte das Tablett auf den Ecktisch. Dann ging sie abwartend auf den Toten zu und ihr war, als habe sie an diesem Morgen einen ganzen fünfhundertseitigen Roman mit großer Geschwindigkeit gelesen und schon wieder vergessen. Herrn Müllers Augen waren geschlossen, sein Gesicht war lehmfarben. Sie war nicht entsetzt, nicht fiebrig erregt, wie sie es selbst erwartet hätte, eine feine Kälte befiel