Das Gespenst der Karibik. Hans W. Schumacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans W. Schumacher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660774
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mehr als wettgemacht.

      Cave cinquantequatre

      Solange Jim Pearce, der schwarze Trompeter, den Schrei eines gemarterten Volkes wie eine Stichflamme aus dem gewundenen Rohr preßte, seine rotgeränderten Augen aufgerissen gegen die von Tabakqualm geschwärzte Decke des Jazz-Kellers, die breiten Lippen fast weiß vor Anstrengung, hintenübergebeugt, so daß seine Schulterblätter fast die Becken des Schlagzeugs berührten, die noch leise klirrten, vom letzten Wirbel des Drummers erregt, der nervös verbissen seinen neuen Einsatz erwartete, wie eine Maschine, dachte der Bassist über der unförmigen Puppe seines Instruments einen Takt lang innehaltend, deren Zuverlässigkeit man vertraut und deren Versagen man doch immer befürchtet, um nach diesem Strahl hellen, kaum noch erträglichen Kreischens an der überdimensionalen Geige zu zupfen, Töne, die dem Klavierspieler eine Reihe farbiger Bilder vor das innere Auge zauberte: ein Schwarm von Seevögeln warf sich schreiend in einen blutroten Himmel und breitete sich fächerförmig aus, plötzlich in schwarze Splitter einer musikalischen Explosion verwandelt, die er in dem Klavierkasten auslöste - war unterhalb des Podiums folgendes zu beobachten:

      Uwe Groß, 23 Jahre alt, von jenem etwas kindlichen Weißblond der Nordseeanrainer, suchte sich unter dem Einfluß einer Flasche eingeschmuggelten Cognacs, die er listig unter seinem Stuhl versteckt hielt, wobei er seiner Umgebung, wildfremden Menschen, von denen er annahm, daß sie seinem Anschlag auf das Schankmonopol des Kellerbesitzers Beifall spendeten, mit einem Verschwörerblick dankte, an der Schulter seines Nachbarn aufzurichten, um von einer Welle des Mitleids mit allen Einsamen überschwemmt, den hier Versammelten die Bruderschaft aller Menschen kundzugeben, etwas glanzvoll Einsichtiges, das ihm eben mit glasklarer Bestimmtheit als Naturgesetz erschienen war, doch der durchdringende, nie verendende, melancholisch immer neu anschwellende Trompetenton ließ ihn plötzlich vergessen, was er tun wollte, Walter Schumann, 35, Kaufmann, unverheiratet, entzog ihm mißmutig die Schulter, worauf Uwe wieder auf seinen Sitz sackte; Walter neigte sich zu seiner ältlichen Freundin Ursel hinüber, die ihn mit dem verwirrten Ausdruck unschuldiger Mädchen anschaute, und flüsterte ihr mit einem trockenen Lachen, das sowohl Vorurteilslosigkeit wie Verachtung ausdrücken sollte "Der ist hinüber!" zu, ein Satz, der im Ohr des ihm gegenübersitzenden Philosophiestudenten Manfred Menke als Charakterisierung der Ekstase des Schwarzen verstanden wurde, der über den Diskanttönen des Blechs aus der verräucherten Höhle hinauszufliegen schien; Manfreds Kopfhaut zog sich krampfhaft zusammen, Schauer rieselten ihm über den Rücken herab, eine Überempfindlichkeit des Nervensystems, das eine drohende Erkältung anzukündigen schien und ihn an die grenzenlose Langeweile erinnerte, die er empfunden hatte, bevor ihm der Ausbruch einer stolzen, geradezu metaphysischen Verzweiflung im Vibrato der Trompete eine bittere Entschlossenheit in die Seele warf, das Leben so wie es war zu ertragen und alle die kausal notwendigen Schritte, zu denen auch gehörte, daß seine Beine ihn hierhergeführt hatten; jedenfalls hockte er auf einem dieser kurzbeinigen, mit Absicht verstümmelten Stühle, die eine Atmosphäre von Zwanglosigkeit verbreiten sollten und jeder Ton von Schlagzeug, Piano, Baß und Trompete berührte sein überreiztes Gemüt mit gesetzmäßiger Strenge, als wäre er selbst das Instrument und zugleich der Spieler davor oder ein Art elektrisches Klavier, das seine Tasten selbsttätig bewegte, eine Idiosynkrasie, die ihn so heftig befiel, daß er den Blick von der Band wenden mußte und dabei in dem Gewühl von im Dunst verschwommenen Leibern, die zuckten wie von einem gemeinschaftlichen System von Federn bewegt, eine Hand wahrnahm, die wie ein Reptil unter die verrutschte Bluse von Klara Baldus, 16 Jahre, glitt, der der Trompetenstoß wie ihr eigener ohne Laut geborener Schrei war, als sie die kreisende Bewegung eines Fingers um ihre linke Brustwarze spürte; eine lähmende Verwirrung war die Folge, die wiederum bewirkte, daß ihr die imponierende Silhouette des Negers vorkam wie der zu Himmel fahrende Christus über dem Altar, wo sie in weißem Kleid die Erstkommunion empfangen hatte, und daß die lustreizenden Gliedmaßen auf irgendeine hintergründige Weise Jim Pearce gehörten, dessen Finger mit atemberaubender Fertigkeit die Ventile der Trompete betätigten, während der neben ihr befindliche Alwin Klein zu einem Schatten ohne Eigenschaften schrumpfte; der Trompetenstoß gellte in das monotone Plätschern des Gesprächs der Studenten Georg Schalk, Ragunath Shabekar und John Berry, das der gleichmäßige Blueston bisher wie eine Flotte von Papierschiffen getragen hatte und nun auseinandergepeitscht in einem Murmeln erstarb, welche sowohl Ärger als Erleichterung darüber ausdrückte, der Anstrengung enthoben zu sein, qualitative Unterschiede in Geschichte, Hautfarbe und Selbsterfahrung zu Übereinstimmung zur bringen, worauf die Blicke unschlüssig umherirrten und sich schließlich als gemeinsamem Fixpunkt auf Beate, dem Groupie des jeweiligen Orchesters, niederließen, die in schwarzem, enganliegendem Pullover und ebenso enger schwarzer Hose in edler Pose an das Klavier Armin Gottwalds gelehnt dastand und deren schöngeformtes Ohr etwas übertrieben Forderndes im grellen Klang der Trompete wahrnahm, wobei sie ihren schmelzend süßen Blick auf dem Pianisten ruhen ließ, dessen verbissen traurige Miene sie davon überzeugte, daß der Dummkopf verliebt in sie war, wobei sie den Spaß überschlug, den es bringen würde, ihn gegen Jimmy auszuspielen, der beabsichtigte, sie mit seinem imperatorischen Solo um alle Sinne zu bringen, der arme Narr, während Armin von dem jäh aufstrebenden, abstrahierenden Klang der Trompete hingerissen, die Gewißheit empfing, daß es ihm gelang, sich allen Abhängigkeiten zu entziehen. Ihm war plötzlich vollkommen klar, daß er dieses hübsche Weib ohne einen Funken Bedauern verlassen könnte, um in der Einsamkeit der Wüste auf einer Säule zu vegetieren, zu deren entrückter Höhe kaum das verzückte Geheul lasterhafter Schakale an das vor Entwöhnung taube Ohr dringen würde.

      Eine schöne Geschichte

      "Mann, Gustav" , sagte Erich und lehnte sich kopfschüttelnd in den Sessel zurück, "ich kann's nicht fassen, ein Wiedersehen nach zwanzig Jahren! Ich komme in dieses gottverlassene Nest, da sitzt du am Nebentisch, fett, seriös und offensichtlich im Wohlstand, und einmal haben wir zusammen Fensterscheiben eingeworfen und deiner Mutter Groschen aus dem Sparschwein stibitzt."

      Gustav lächelte schwach. Er blickte über den Kopf seines ehemaligen Schulfreundes in einen Spiegel, dessen Rahmen sich üppig zwischen den gußeisernen Säulen des Cafés ausbreitete. Im bläulichen Schimmer des Glases sah er durch die offene Tür und die gardinenverhüllten Fenster auf den Bahnhofsvorplatz. Weiße Dampfwolken zergingen wirbelnd über dem Dach der Station, ehe noch das mühsame Gestöhn abfahrender Züge kaum hörbar zu ihnen drang.

      Gustav stützte seinen schweren Schädel in die Hand. Er entsann sich nicht mehr, wie ihn Erich erkannt hatte. Das ärgerte ihn, er wurde alt. Leute wie er mußten jede mögliche Beziehung zur Umwelt vorauszusehen und zu lenken imstande sein. Aber wer kam schon auf so unwahrscheinliche Zufälle? Er sah Erich tiefsinnig mit einem in Tränensäcken versinkenden Blick an und klopfte mit seinem goldenen Siegelring auf die Marmorplatte des Tischchens, einen tristen Rhythmus.

      Erich war etwas benommen zumute. Die Körpermasse seines alten Freundes quoll wie die fleischgewordene Melancholie aus dem engen Strohsessel, wirkte wie die Schwerkraft des Mondes auf einen Schlafwandler. Sie saugte seine wiederaufgelebte Pennälerfröhlichkeit in ein Vakuum, in dem merkwürdige Beziehungen wie Spinnfäden webten. Hier kannte er sich nicht aus.

      "Du bist nicht glücklich?" fragte er unsicher. Lieber wäre ihm gewesen, dem hochmütigen Gustav gleich von den Erfolgen in seinem Berufsleben erzählen zu können, aber wenn jemand so traurig aus der Wäsche schaute, war er dafür wohl nicht recht empfänglich. Die Zeit dafür würde bestimmt noch kommen. Noch besser wäre, wenn Gustav ihn irgendwie um Rat und Hilfe bitten würde, dann könnte er ihm zeigen, daß er es jedenfalls zu etwas gebracht hatte. Daß Gustav so adrett gekleidet war, erstaunte ihn, er hatte im stillen immer erwartet, daß aus seinem chaotischen Schulfreund nichts werden würde.

      In der Retorte des Spiegels erschien eine junge Frau. Sie nahm an einem Fenstertisch Platz und zündete sich eine Zigarette an. Der Schatten der von warmer Zugluft bewegten Gardinen warf ein Filigranmuster über ihre nackten Schultern.

      "Sieh dich nicht um," flüsterte Gustav, "da ist sie."

      Er senkte die dunkelbraunen Augen in den von einem Blitz des Verstehens durchzuckten Blick seines alten Kumpels.

      "Heißt das, du