Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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Denkmal? Hast du Sorge, wir m ü ssten an diesem wundervollen Ort unsere Tage beschließ en?"

       "Es ist weniger Sorge. Außerdem, ob hier oder anderswo, ist das nicht egal? Von diesem Planeten k ö nnen wir ohnehin nicht weg."

       "Aha. Deshalb, meinst du, ist es egal, wo man seinen Geist aufgibt?"

       "Du tä test es lieber in den Armen einer weiblichen Wesens, nicht wahr?"

       "Wie du jetzt gerade darauf kommst."

       "Man muss gelegentlich Auseinanderliegendes zusammen denken."

       "Wobei mir einf ä llt: Ich hatte mal eine Autopanne mit einer Frau. Es war in Tunesien, und wir kamen in eine heikle Lage. Es passierte in der W ü ste, wir hatten einen Jeep gemietet. Sie fuhr. Pl ö tzlich gab der Wagen seinen Geist auf, mitten im Nirgendwo ."

       "Und was habt ihr gemacht?"

       " Gevögelt Grinse nicht, es war so. Und es war ihre Idee. Ich war etwas in Panik, sie gar nicht. Sie fand die Situation prickelnd."

       "Bemerkenswert."

       "Ich erinnere mich noch, was sie sagte, wenn sie Sex wollte: Komm schon, Darling, steck deinen Schl ü ssel in mein Schneewitchen-Schloss."

       "War sie Engl ä nderin?"

       "Amerikanerin. Ihre Mutter war Deutsche. Und sie lebte auf beiden Kontinenten. Wir waren drei Monate zusammen."

       " Nicht eben lange ?"

       "Sie hatte einen herrlichen, schlangengleichen Leib. Aber es war der Leib einer W ü rgeschlange. Sie war äu ßerst besitzergreifend, weiß t du."

       "Und wie ging euer W ü sten-Abenteuer aus?"

       "Man fand uns rechtzeitig sonst wäre ich ja auch nicht hier. W äre übrigens nicht schlecht, wenn das jetzt ebenfalls passieren t ä te."

       " Wir warten noch eine halbe Stunde und marschieren dann aufs Geratewohl los, okay?”

       "Wie sagte dieser Sch ä fer vorhin …Nord ö stlich l ä ge die n ä chste Ortschaft?"

      “Ja, so sagte er, glaube ich."

      “Und weißt du, wo Nordosten ist?"

       "Wir gehen nach dem Stand der Sonne."

       "Mit einem munteren Lied auf den Lippen, wie!"

      “Genau. Wir wandern fröhlich kreuz und quer, das Jahr war satt, die Trauben schwer…"

      “Rilke?”

      “Nein, Tauchsieder.”

      *

      Ein nuklearer Sonnenaufgang. Eine schlecht inszenierte Abenddämmerung. Dann folgte die Stunde des Wolfes, und sie sattelte, zeitversetzt, auf seiner noch müden Pia mater.

      Er gähnte und vergaß vorübergehend, den Mund zu schließen. Es war dunkel. Er machte Licht. Das war möglich, denn neben ihm stand eine Lampe. Er dachte nach. Das Verkehrte verrät sich nicht immer dadurch, dass man das Richtige bereits kennt. Er hätte gern einen Spiegel gehabt, um hinein zu sehen. Er war überzeugt, ein ihm fremdes Gesicht zu erblicken. Etwas entzog sich ihm pausenlos, wenn er es zu greifen oder zu begreifen suchte, wohl weil es keinen festen Bestand hatte, sondern flüssig war wie Spucke. Er redete sich gut zu, indem er sich sagte, man müsse nur bei Gelegenheit das Gegenteil von dem denken, was man glaubt, denken zu müssen, und manches änderte sich, würde vielleicht sogar klar oder doch wenigstens klarer. Für ein paar flüchtige Augenblicke beruhigte ihn das, bis ihm etwas anderes einfiel: Der 8.April…war das nicht schon gewesen?! Wie konnte ein Datum solch eine Gewalt über das eigene Denken gewinnen, ausgenommen vielleicht, es handelte sich um ein Todesdatum? Einstweilen gab er sich geschlagen, forschte nicht weiter nach. Er war also hier. Es mochte Anfang April gewesen sein, dass er woanders gewesen war. Nun, aus dem Mann mit den zwei Gesichtern war eben der Mann mit den zwei Adressen geworden. Auf eine gewisse Art war er jetzt hier ansässig, er war sich aber sicher, dass es noch jenen anderen Ort gab, an dem sich zuvor sein Zuhause befunden hatte. Er erinnerte sich unvermittelt, gehört zu haben, wie einige ihm unbekannte Stimmen sagten, man habe die Laborwerte und später die Säuglinge vertauscht, oder auch andersherum. War von ihm die Rede gewesen? Doch nein, er war kein Säugling mehr, ganz bestimmt nicht. War er etwa Vater geworden? Ach, beruhigte er sich, das alles waren wahrscheinlich nur aufdringliche Laute aus den Wurmlöchern seiner Existenz, diese Stimmen, diese unnützen Worte. Wie war das mit ihm, wenn er zu viele Worte machte? Er beherrschte die Grammatik nicht, sie beherrschte ihn. Folglich ließ er es lieber und fasste sich kurz.

       "Wie geht's?"

       "Danke, ich habe zu tun."

       Die Frage war ihm mehrfach gestellt worden, die Antwort gab er nur einmal. Es musste schon eine Zeit her sein. Er stand auf, es war Morgen, aber noch nicht hell, wie er, nachdem er die Vorh ä nge vor den Fenstern aufgezogen hatte, mit einem Blick nach draußen feststellen konnte. Er machte sich ein wenig zurecht, f ü r die Sterne, denn andere waren nicht zugegen. Er war allein. Selbst der Mond hatte offenbar Ausgang.War er eingesperrt in diesen Raum? Es war ein Einbett-Zimmer? Ab und an, erinnerte er sich, war eine junge Frau herein gekommem, eine Pflegerin - ja, es k ö nnte eine Pflegerin gewesen sein - hatte sein Kopfkissen gerichtet. Er hatte sich dabei wie ein beliebiges, ja, nutzloses St ü ck Fleisch gef ü hlt, vielleicht noch mit einer Nummer versehen. Er selbst kannte die Nummer nicht. Ihm wurde bedeutet, er habe hier nichts zu sagen. Aber jeder hat etwas zu sagen und wenn es nur 'Guten Tag' und 'Guten Weg' ist. War er denn ein Nichts? Nein, soweit war es noch nicht. Sonst h ä tte man nicht nach ihm gesehen. Er konnte sich ohne fremde Hilfe bewegen, aufstehen, sich waschen, auf Toilette gehen. War die Toilette nicht auf dem Flur gewesen? Er besaß keine pers ö nlichen Sachen. Er musste lange geschlafen haben, vielleicht war es eine Art Koma gewesen. So etwas gab es. Hatte er einen Unfall gehabt? War das hier wirklich ein Pflegeheim oder doch mehr eine Unfallstation oder gar beides? Er war sich nicht sicher. Er konnte sich nicht sicher sein. Er w ü rde die Schwester oder Pflegerin fragen m ü ssen, wenn sie das n ä chste Mal kam falls sie ein n ä chstes Mal k ä me. Er erinnerte sich ihres Namens: Fr é n é sie. Ein Name wie eine Krankheit. Ein sch ö ner Name. Und auch seine Gedanken irrten ab. Sie gerieten aus ihrer flachen Umlaufbahn und im Anschluss einander ins Gehege. Er h ä tte, wenn er es gew ü nscht h ä tte, dem Vorgang vielleicht eine ü berraschende Seite abgewinnen k ö nnen, aber ihm war nicht danach. Wozu auch? Zu viele Fragen, die man auf diese oder jene Weise aufwerfen w ü rde, zu viele Antworten. Wobei in der Regel einiges von der Interpunktion abhing, oder, nicht oder, doch? Das Komma konnte Dinge verdrehen, machte, so fantasierte er, dass sich die W ö rter zueinander hin neigten, der Punkt, dass sie nicht umkippten. Er verfolgte das nicht weiter. Es waren