Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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deutet es auf einige sonnige Abschnitte im menschlichen Sektor. Oskar tut, was manch einer tut, wenn man um eine weitere Äußerung verlegen sind, er starrt Löcher in die Luft. Dabei nimmt seine Miene ungewollt einen spröden Ausdruck an. Und manches Mal, wie eben jetzt, kann es innerlich zu einer retrospektiven Luftspiegelung kommen…

       "Du hast zuweilen etwas Unnahbares im Ausdruck , O ss. Das kann andere leicht verprellen."

      “Willst du damit sagen, ich bin so?

      “Vielleicht ein Teil von dir.

      “Welcher Teil?

      “Ich verstehe die Frage nicht.

      Oskar füllte ihrer beiden Gläser mit Cognac nach. Es ärgerte ihn ein bisschen, was Timo da gerade gesagt hatte. Verhielt es sich wirklich so, oder war es mehr eine Frage der Umstände? Für den einen bedeutet es, dass das eigene Selbst im universalen Klangkörper mitschwingen kann, für den anderen nicht. Deutet das zwingend auf einen Wesensunterschied?

      Schau nicht so mürrisch drein, Junge! Diesen Satz bekam er häufig zu hören, als er jünger war. Er suchte Seelenverwandtschaften, und er fand sie nicht. Das färbte auf seine Stimmung ab und auf seine Fassade. Er galt lange als schwierig. Er nahm es an. Er kultivierte es streckenweise. Andrerseits konnte er Menschen wie Timo um die Leichtigkeit beneiden, mit der sie ihre Antennen in die Welt ausrichteten. Sie schienen immer auf Empfang. Und sie schienen immer etwas zu empfangen, was es auch war...

      Oskar - zurück in der Gegenwart - legt die Zeitschrift auf dem Tisch ab. Ein Bild einer historischen Zugmaschine schmückt die Titelseite. Es gefällt ihm, das Lokomobil. Er macht sich sonst nicht viel aus Eisenbahnen, ist eher ein Autonarr.

      “Was ist das für eine Lokomotive?

      “Sie heißt Martin Luther und stammt aus Halberstadt, sie wurde im 19. Jahrhundert nach Deutsch-Südwestafrika verschifft und sollte für Transporte auf einer Strecke zwischen der Küste und der Stadt Windhuk dienen. Daraus wurde aber nichts, das Wüstenland deckte den Wasserbedarf des Dampfkessels nicht, und die Lok hatte zu wenige Waggons mit Brennmaterial. Sie machte nur eine einzige Fahrt, für die sie fast drei Monate brauchte, vom Hafenort Walvis Bay zum Seebad Swakopmund. Danach rührte sie sich nicht mehr vom Fleck.

      “Daher der Name?

      “In Anlehnung an den berühmten Ausspruch Luthers, ja.

      Oskar schaut auf die schmucklose Uhr an der Wand des Arztzimmers. Sie tickt geräuschlos. Er wollte früher einmal, in ganz jungen Jahren, zum Südpol reisen. Er hatte gelesen, dort sei das Ende der bekannten Welt. Er merkte später, sie kann auch vorher schon zu Ende sein.

      Es ist bald Mittag. Er hat Hunger. Drei Tage verbleiben noch, bis Constanze und er hier abreisen werden. Ab wird es dann gehen, ab nach Hause. Er verlässt das Spital. Merkwürdig, wie vertraut ihm diese Gegend bereits geworden ist. Als hätte er sich nie anderswo aufgehalten. Nein, denkt er, so kann man es nicht sagen. Aber man sagt eben vieles so dahin. Billionenfach - Hellebarden der Flüchtigkeit.

      *

      Minus-Ereignisreihen, die sich sich zum Aufgalopp formierten.

      Er überquerte die Pont Neuf, entfernte sich von dem Tatort. Das Opfer lag lang hingestreckt, sah jetzt, nach seinem Ableben, irgendwie wertlos aus. Er sah es nur kurz, die Stelle wurde von der herbeieilenden Polizei abgesperrt, die Leiche weggeschafft.

      Mit der Sache hier hatte er nichts zu tun. Es war ein politisches Attentat. Der Anblick, so flüchtig er auch ausgefallen war, ließ Oscar an jenen anderen mit den zwei Männern denken, die er kürzlich in ähnlicher Stellung hatte daliegen sehen, im Gouffre Bleu. Tote auf Bestellung. Das einte die beiden Ereignisse. Keiner der Toten war Opfer unvorhersehbarer Umstände geworden.

      Und Oscar ging noch etwas durch den Kopf, als er, aufblickend, einen Haufen schroffer Wolken über den Himmel klettern sah: Konnte nicht jeden Augenblick etwas weitaus Gewalttätigeres seinen Lauf nehmen? Vielleicht öffnete sich unversehens eine kilometerbreite Erdspalte oder der Mount Everest kippte auf die Seite, und alles Tun - Gespräche, Arbeit, Eifersüchteleien, Reisen, Putzzwänge - erschiene mit einem Schlage null und nichtig? Er war sicher nicht der erste, der diesen Gedanken hatte.

      Dergleichen geschah indes nicht, es blieb bei diesem kleinen, mörderischen Zwischenfall, der, einem Bankeinbruch, einem Busunglück, dem Ausbruch einer Krankheit vergleichbar, nur mikroskopische Spuren hinterließ. Danach würde, das war zu erwarten, wieder die unbeugsame Kraft des Alltags walten.

      Seine Vorahnungen hatten sich nicht bestätigt und waren doch Realität geworden, auf eine abgefälschte Weise, abgefälscht wie Querschläger. Er war fassungslos. Solch eine Anhäufung geballter Gewalt...

      Er sah zur Seine hinüber. Der Fluß hatte etwas von einer geschwollenen Krampfader. Seine Ufer schienen dagegen mit einer Hornhaut überzogen. Oscar hätte gerne auf der Stelle kehrt gemacht, den Schauplatz gewechselt, wäre am liebsten planlos verreist, weit fort, nach Swambesi oder in die Innere Mongolei. Dabei hatte er jetzt streckenweise glanzvolle Tage und Nächte durchlebt, eine wahre Hoch-Zeit. Ja, die Umstände waren ausgesprochen nett zu ihm gewesen. Bis dann irgendwo ein Feuerlöscher explodierte. Von da an wurde es spukhaft. Und brandgefährlich.

      Er kippte einen leeren Blick auf das Pflaster. Er sah zwei Uniformierte auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke gehen, die, ihre Augen zusammen kneifend, herüber blickten; sie beobachten mich, dachte er. Unwillkürlich ging er schneller, dann langsamer und abermals schneller; und prompt überkam ihn dieses lähmende, ätzende Gefühl, dass er so gut an sich kannte, das Gefühl ertappt worden zu sein, ertappt dabei, dass er sich vor etwas drückte, vor einer Aufgabe, die ihm zugedacht worden war, vor Pflichten, die man ihm auferlegt hatte, vor der Verantwortung für Dinge, die er hätte übernehmen müssen, kurzum, ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Er hatte permanent ein schlechtes Gewissen, auch wenn es gar nichts gab, weswegen er sich hätte rechtfertigen müssen. Er hatte das Gefühl abonniert, und es war jederzeit abrufbar.

      Oscar setzte seinen Weg fort. Alles eine Schutthalde. Beide Lokale verwüstet. Gleichwohl lautete die Losung zunächst noch: Das Geschäft geht weiter. Er wollte sich ins Chez Ginot begeben. Dort würde er seinen wunden Geist mit den Bildern einer sanfteren Vergangenheit salben können. Er dachte an Saloua, vernahm ihr weiches, singendes Stimmorgan an seinem Ohr. Melodie und Rhythmus. Ungewohnte Töne der Bewunderung. Denn dieses Mal galten sie ihm.

       "Aus dir wird eines Tages noch ein ganz Großer, Oscar!

      Selbst Mohun hatte ihm mehrfach auf die Schulter geklopft. Auch er plötzlich des Lobes voll. Ihn freute vor allem, dass sein "Tastenmann" Geld ins Etablissement brachte. Es kamen jetzt mehr und mehr Gäste ins Gouffre Bleu, und sie kamen nicht nur der leicht bekleideten Mädchen wegen, sie kamen auch Oscars wegen.

       "Du entwickelst dich ja langsam zum Goldesel, mein Freund."

       "Ich hoffe nur, es ist kein Strohfeuer."

       "Das hoffe ich auch. Streng dich also an. Überbiete dich selbst. Sonst wird man dich ein bisschen antreiben m ü ssen, notfalls mit der Peitsche."

       "Hast du nicht eben noch meine Leistungen gepriesen?"

       "Der eine schmeichelt, der andere droht. Ich tue beides. Zuckerbrot und Peitsche, verstehst du.“

      Oscar machte im Bereich des Schläfenlappens eine Rolle rückwärts. Hinein in eine gemischte Diashow. Dunkle Bilder überlagerten jäh die hellen. Krawall im Königreich... Mohun und Saloua, sie waren an jenem Abend nicht mit unter den Anwesenden im Saal. Es gab Turbulenzen.

      Charakterlich