Mohuns Leute mussten ihn vom Hinterhof hierher verlegt haben. Jetzt lag er leblos am Boden, in einer Ecke des Zimmers, exekutiert, gefesselt, nackt. Etwas später betrat Mohun selbst den Raum. Er warf ein unruhiges Auge auf die Leiche. Oscar sah, dass sein linkes Augenlid zuckte, und er hätte fast schwören mögen, auf seiner runden Stirn zittere eine einsame Schweißperle.
"Eines m ü ssen wir jetzt jedenfalls nicht mehr bef ü rchten."
"Was denn, Chef?"
"Dass Cosmin noch ein As im Ä rmel hat."
Joe kaute an einem Streichholz. Dann sprang sein tiefes, gutturales Lachen durch den Raum, in Halbtonschritten, paarte sich mit einem Lächeln Mohuns, das aber eher Andeutung blieb.
Mohun setzte sich an den Tisch. Dort lagen, im Halbkreis verstreut, Papiere, Fotos, Dokumente. Er gönnte ihnen einen flüchtigen Blick. Anschließend erhob er sich wieder. Ging auf und ab. Das Licht der Tischlampe verschoss zu den Seiten hin flackernde Blitze. Sie schwankte, die Lampe. Mohun war, als er aufstand, mit dem Kopf gegen sie gestoßen.
Das Zimmer glich einer Verhörzelle. Und es hatte offenbar einem solchen Zweck gedient. Cosmin war wohl, bevor man ihm den Garaus gemacht hatte, an diesem Ort peinlich befragt worden. Joes riesiger Körper ragte gleich einem Totenhügel in den Raum, warf im Schein der Deckenlampe einen Überschatten. In diesem Schatten ruhte Cosmin. Ja, er schien darin aufgebahrt.
“Er hinterlässt eine Frau und eine kleine Tochter. Wir werden ihnen Geld schicken. Du kümmerst dich darum, Joe."
“Ja, Chef. Ein reizendes Püppchen übrigens, die Kleine, Jeannette heißt sie; so unschuldig. Cosmin brachte sie manchmal mit hierher in den Club."
"Unschuldig, ja, mag schon sein. Doch eines Tages wird auch sie einen Junker finden, der sie auf die Hörner nimmt .”
Oscar trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er wollte hier raus. Und noch etwas wollte raus, eine aus Ohnmacht, Angst und Empörung geborene und für ihn eher untypische Wutattacke.
“All deine Willkür, all deine Macht, das, ehm, ist ja nur geliehen, wie dein Leben. Eines Tages wird es damit aus und vorbei sein, wird es verglühen wie eine Sternschnuppe."
"Langsam, mein Freund, langsam. Du wirst uns ja am Ende noch zum Dichter. Soll ich dir etwas sagen, Oscar: Du l ä ufst hier herum wie ein Wurmfortsatz. Ä ndere das. Ich rate dir dringend dazu."
Mohun war ganz gelassen geblieben, als Oscar so unerwartet wie zornesrot seinen Kommentar ausspuckte. Ja, der Auswurf schien Mohun eher zu amüsieren, oder er tat zumindest so.
"Kann ich gehen?"
"Geh nur!"
Oscar wandte sich mit zwei, drei raschen Schritten dem Ausgang zu. Ehe er den Raum endgültig verließ, veranlasste ihn die Stimme Mohuns noch einmal zum Innehalten.
"H ö r zu, Oscar! Cosmin war ein Verr äter. Hä tten wir ihn nicht beseitigt , h ä tte er daf ü r gesorgt, dass man uns beseitigt, und zwar, damit das völlig klar ist, uns alle…”
Das Fest war vorüber. Die Gäste hatte es fortgespült. Oscar durchquerte den leeren Club, warf einen schrägen Blick Richtung Bar, Richtung Bühne. Das Licht ringsum leuchtete spakig, rostig, kalt. Es roch nach abgestandenem Tabakrauch. Halbvolle Gläser und Flaschen paarten sich auf und unter den Tischen, volle Aschenbecher machten Doktorspiele. Stühle waren, wahrscheinlich von verirrten Leberhaken getroffen, auf die Herzseite gestürzt. Enthemmte Gliedmaßen hatten Wein, Bier oder Sekt verschüttet. Das Piano ragte rachitisch und einsam in eine einsame Kulisse.
Hinter Oscars Schläfen pochte ein bitterer Cocktail aus Erschöpfung, Schwindel und Schmerz und dem Rückstand chloroformierter Stunden. Er trat, freier atmend, nach draußen in die Nacht, er stand da unter blitzenden Sternen, unter dem schroffen Licht eines Erdtrabanten, der einer geplatzten Zyste glich. Er sah zur Uhr. Es war früher Morgen. Das Datum hatte er vergessen. Es spielte auch keine Rolle…
An diese Anfänge im Gouffre Bleu musste er jetzt denken, als ihm der plötzliche Einfall kam, Saloua aufzusuchen. Er sah das damalige Geschehen spiegelverkehrt und mit Patina versehen, obwohl es nur einige kleine Zeitkapseln zurück lag. Einiges davon, etwa den Cosmin-Part hatte er geglaubt, längst verdrängt zu haben, tief vergraben unter der Kruste seines Wachbewusstseins. Das Ganze war nun aber wieder nach oben gespült worden. Warum? Wozu? Weil es eine Art Fortsetzung gefunden hatte, jenseits des zerrissenen Hymens einer nur für Sekunden jungfräulichen Gegenwart.
Er machte sozusagen zwei Entdeckungen post festum. Die zweite wurde vertagt, die erste schien bereits mit einem Geburtsfehler behaftet, was aber nicht so war. Er weilte unter Artgenossen, die ab und an jemanden umbrachten. Sie fielen nicht weiter auf, nicht mehr als andere gewöhnliche Sterbliche. Sie aßen und tranken, legten sich schlafen, sie gingen auf Toilette, sie litten unter Haut- oder Seelenkrätze, ihr Handschlag (den Oscar aus persönlichen Gründen zu vermeiden suchte) übertrug keine bösen Krankheiten, sie heirateten und zeugten Kinder. Sie trugen kein sichtbares Zeichen, kein Kainsmal, das deutlich machte: Ich bin ein Mörder. Hatte er anderes erwartet? Ja und nein.
Er war im Krieg gewesen, doch, abgesehen davon, dass er nie auf jemanden hatte schießen müssen, war das nicht vergleichbar. Was unterschied einen Mörder von einem Nichtmörder? Die Tat, nicht das Tatmotiv. Etwas, was besser passte, wollte ihm nicht einfallen, obwohl es etwas, was besser passte, geben musste. Alles, dachte er so zusammenhang- wie hilflos, ist so, wie es ist, schwarz, weiß oder beides. Die zweite Entdeckung, die er machte, war: Er war in dieses Babel verstrickt.
Er war kein Mittäter, aber doch immerhin Mitwisser. Ja, ja, er hatte sich schuldig gemacht. Und das bereitete ihm heftiges Bauchkneifen. Würde er sich je daran gewöhnen können? Er glaubte damals nicht daran. Er hoffte es nur, klammheimlich, ohne es sich eingestehen zu wollen. Inzwischen wusste er, dass es möglich war… im Lande Nod, östlich von Eden.
Oscar vermutete, dass Saloua sich bei ihrer Mutter aufhielt. Er kannte die Adresse, obwohl er nie dort gewesen war. Sie, die Mutter wohnte, seit ihr Mann tot war, in einer winzigen Wohnung unweit des Friedhofs Montparnasse, in der Rue... der Name war ihm entfallen. Doch war das Bild der Straße auf seiner Retina eingeätzt und gleichermaßen das Haus. Und die Nummer war ihm erinnerlich Es war die Nummer 12. Er wiederholte es dreimal, wie eine Beschwörungsformel.
Die Mutter Salouas war zu Lebzeiten ihres Mannes wenig bis sehr wenig in Erscheinung getreten. Sie war eher unsichtbar im Hintergrund verblieben, und selbst dieser Hintergrund wurde nach außen kaum je erkennbar. Dennoch schien die Tochter stark von ihr beeinflusst. Die Mutter war wie jemand, den man oft zitiert, der aber selber weder zu sehen noch zu hören ist. Es war kaum vorgekommen, dass sie einmal im Rapzodie gesichtet wurde, wenn Oscar es recht bedachte, im Grunde so gut wie nie.
Saloua unterstützte ihre Mutter finanziell, denn aus dem Nachlass Attila Ferenczys waren nicht viel mehr als ein paar vertrocknete Erbsen zurück geblieben. Etwas Geld kam auch von Mohun. Doch im Grunde wollte die Frau keine Hilfe, schon gar nicht die Frank Freyer Mohuns. Sie versuchte, für sich selber aufzukommen, indem sie, offenbar mit einem gewissen Erfolg, ihren Lebensunterhalt als Wahrsagerin und Kartenlegerin bestritt. Saloua hatte Oscar einmal den Vorschlag gemacht, sich von ihr seine Zukunft lesen zu lassen. Er hatte er das Angebot abgelehnt…
Auf dem Weg zur Bushaltestelle geriet Oscar unfreiwillig in eine Prügelei. Er wollte ausweichen, aber es war zu spät. Ein junger Mann kam ihm in die Quere, fasste nach seinem Arm, krallte sich an ihm fest. Er wurde verfolgt.