Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
Скачать книгу
konnte man sich aber seiner Urteile je sicher sein? Es kam manches so selbstverst ä ndlich daher, h ä ufig war jedoch T ä uschung mit im Spiel, man t ä uschte sich und ließ sich t ä uschen, von der Wiederkehr des scheinbar ewig Gleichen, aus Gewohnheit. Ja, das war es: Die Gewohnheiten. Sie stiegen, wie Treibsand, aus den Niederungen auf, wo sie zuhause waren und verpesteten die H ö henlagen, wo frische Lüfte wehten; vergebens. Das Moment der Tr ä gheit. Es durfte an dieser Stelle nicht unerw ä hnt bleiben. Es war der Gewohnheit benachbart, sie geh ö rten demselben Klub an, wenn es denn einer war. Vielleicht war es auch mehr eine Art Loge, ein Geheimbund. Sie waren zahlreicher, als man es sich tr ä umen ließ. Denn sie tarnten sich. Am Ende war jedes Gehirn, hatte es erst einmal einen gewissen Reifungsgrad erreicht, ein in sich geschlossenes, ritualisiertes, starr gef ü gtes und f ü r Unbefugte unbegehbares kleines Universum, abgef ü llt mit privatem Brauchtum, eine Parzelle unkalkulierbarer Inhalte, die gegebenenfalls nur darauf wartete, ja, herbeisehnte, eines Tages aufplatzen zu d ü rfen, dann n ä mlich, wenn die Gunst der Stunde es erlaubte, im Kriegsfall, im Gef ü hlsrausch, im Exzess. Bewohnte nicht ein jeder sein eigenes Wahnsystem? Aber letztlich blieb nichts ü brig. Auch gute Taten, bessere Tr ä ume wurden zu Staub. Alles war am Ende tr ü gerisch. So stand es schon im Buche Kohelet geschrieben. Jedenfalls, der Mensch, so stellte er abschließend fest, war eine Tretmine, ja, ganz gewiss war er das oder zumindestens etwas Ähnliches .

       Es gibt Momente, dachte er, die keine sind, weil, sie sind zu lang. Sie spreizen sich. Andere knicken ein, sie wurden zu fr ü h verplant. Er schritt das Zimmer ab. Das war rasch erledigt. Er sah sich um. Viel gab es nicht zu sehen. Er sah erneut aus dem Fenster. Weiterhin alles schwarz. Er sah zur T ü r. Er h ä tte sie ö ffnen und wieder schließ en k ö nnen. Vielleicht sp ä ter. Er setzte sich auf den Rand des Bettes, kratzte sich, ü berlegte, kratzte sich, ü berlegte Man konnte immer so weiter machen. Er h ä tte gern ö ffentlich bekannt gemacht, dass er ü ber seine Lage nachsann, dass er bereit war zu reden, Auskunft zu erteilen. Doch wor ü ber? Ihm fiel nichts ein, so sehr er gr ü belte, obwohl das Wort 'gr ü beln' die Sache nicht wirklich traf. Man kannte das aus dem Kino: Pl ö tzlich wachte einer auf und hatte keine Erinnerung…

      Oskar legt das Büchlein aus der Hand. Er wollte eigentlich nicht mehr darin lesen. Wieso übrigens ist ihm bei der Lektüre die Autopanne vom vergangenen Wochenende in den Sinn gekommen? Er würde jetzt gern mit Timo reden, doch Timo ist abgereist.

      Oskar geht auf die Terrasse. Kinder laufen über das Grundstück. Er denkt kurz daran, sie zu verjagen, lässt es aber. Als sie ihn sehen, lachen sie und schneiden Fratzen. Dann laufen sie davon. Es werden, denkt er sich, Kinder aus der Nachbarschaft sein, von jenen umliegenden Ferienhäusern, die bewohnt sind. Es ist auch egal.

      Er legt sich in die Hängematte. Eine Idee von Constanze. Er hat sie vor zwei Tagen aufgespannt. Sie haben sie zufällig in der Garage entdeckt, unter Gerümpel. Meistens wird sie von seiner Frau benutzt, wenn man hier überhaupt von ‘meistens’ sprechen kann.

      Neben der Hängematte liegt ein Magazin auf den Steinfliesen, es ist eine Frauenzeitschrift, eine bereits etwas ältere Ausgabe der Marie Claire. Er nimmt sie an sich, blättert darin. Plötzlich sticht ihm ein Artikel gesondert ins Auge. Er zeigt Bilder einer Ausstellung, irgendwo in New York. Eines der abgelichteten Werke kennt er, von früher her. Er kann nicht mehr sagen, wo er es erstmalig gesehen hat, ob in einem Museum oder an einem anderen Ort und ob im Original oder in einer Reproduktion, Vermutlich geschah es in Begleitung seiner Frau, anlässlich einer dieser Vernissagen, zu denen sie ihn gerne mitschleift.

      Schon damals war ihm das Malwerk aufgefallen. Er sieht es sich jetzt erneut interessiert an. Es ist nur auf einem kleinen Foto zu betrachten und auch dort nur in einem Ausschnitt. Den Rest ergänzt seine Erinnerung. Das Gemälde: Ein spielendes Kind auf einer blühenden Wiese im hellen Sonnenschein. Dahinter ein Haus. Davor ein Mann und eine Frau im Streit. In der Nähe west der Kadaver eines verendeten Tiers. In der Ferne ziehen Unwetter auf. Ein schlichtes Bild, mit einer schlichten Unterzeile: Das schöne, schreckliche Leben. Er liest das, er entsinnt sich, er kennt das, jeder kennt das, und siehe, es kühlt vorübergehend die Grübelsäfte in seinem Denkapparat, es dekantiert sie. Und dann, brummt er, indem er, wie einst als kleiner Bub, zum Himmel aufschaut, der sich an diesem Morgen als gefiltertes Abbild einer weich zeichnenden Kameralinse zeigt, warten wir nur noch ungeduldig auf den lang angekündigten Vortrag: Gott erklärt uns Raum&Zeit.

      *

       " Eines solltest du strikt vermeiden, mein Freund: dass man von dir in der Vergangenheitsform spricht."

      Mohun stellte seine Worte, sie ungewohnt sorgfältig wägend, wie Positionslichter in den Raum, ganz so als gelte es, jemanden zu einem Erste-Hilfe-Kursus zu überreden. Man kann den Kopf senken und heben, so dass es nach einem Nicken aussieht, ohne dass es so gemeint ist. Oscar tat genau das. Mohun zog eine Schachtel Gitanes hervor, hielt sie ihm entgegen. Sie rauchten.

       " Ich fliege über morgen."

       "Allein?"

       "Saloua wird mich begleiten."

       "Ich dachte, ihr läget im Streit."

       " Streit würde ich das nicht nennen. Sie ist mitunter etwas bockig, das ist alles. Da muss man ihr dann zeigen, wer der Herr im Hause ist. Das braucht sie von Zeit zu Zeit."

       "Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?"

      Bei dieser Frage lachte der Befragte überrascht. In Oscars Ohren klang es, obwohl das nicht zutraf, ein bisschen scheppernd. Mohun stippte Asche von seiner Zigarette, parterre.

       "Genau genommen sollte ich dir nicht davon erz ählen."

       "Warum nicht?"

       "Sie war ja minderj ä hrig, als sie meine Geliebte wurde. Ihre Eltern wussten nichts von mir. Es w ä re mir nat ü rlich auch egal gewesen, h ä tten sie es gewusst.”

      Oscar bereute es, sich erkundigt zu haben. Nicht der Antwort wegen. Er wollte, bei näherer Betrachtung, doch gar nicht so exakt wissen, was hatte geschehen müssen, damit aus Mohun und Saloua ein Paar geworden war. Er sah den kleinen, stämmigen Mann an, blickte in seine dunklen Mohrenkopfaugen, die er mit Saloua gemeinsam hatte, nur, seine waren etwas wässriger.

      Wie standen Mohun und er miteinander? Wären sie, hätten sie sich als Knaben bereits gekannt, Spielgefährten, Freunde geworden? Es war gegenwärtig jedenfalls ein zwiespältiges Verhältnis, eines gemacht aus ungleichen Zahlen.

      Oscar betrachtete die dreieckigen Plastik-Aschenbecher mit ihren Cincano Aufschriften, die einzeln oder paarweise auf den Tischen standen. Ähnelten sie nicht miniaturisierten Raumschiffen? Der, den er mit den Fingern hin und her verschob, war leer bis auf zwei Zigarettenkippen. Es war halbfünf Uhr abends und gerade dunkel geworden. Es wurde Winter.

      Draußen an der Place Clichy warfen die Leuchtschriften der Reklameschilder