Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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mehr. Er kam nicht in den Schlaf, beziehungsweise der Schlaf kam nicht über ihn. Er drehte Wachrunden und grübelte Brandlöcher in die Laken. Irgendwann stand er auf und ging grunzend in seinen vier Wänden umher. So ging es seit fünf, sechs, sieben Nächten. Zweimal hatte er seine Mansarde verlassen und sich mit Hilfe von Bruder Martin abzustillen versucht...

      Die Zeit danach. Die Zeit davor. Er hatte da sein persönliches Taxameter. Die Stunde Null im Jahre Null. Es war das einzige Datum, das sich exakt datieren ließ. Die anderen durchzog ein vergifteter Nebel, der sein Bewusstsein zuschleimte, wenn er sie zu lange ins Auge fasste.

      Die Zeit danach also: Erster Akt. Da war er im Geiste ja gerade gewesen. Unbeschwerte Tage? Glückliche Nächte? Nein, eher rauschhafte Tage und Nächte. Es war seine mit Abstand beste Periode gewesen, seit er hierher, nach Paris gekommen war. Sie erinnerte ihn im Rückblick an Schneekugeln aus seiner Kindheit, winzige Glaswelten, die, schüttelte man sie, für kurze Augenblicke zu einem verzauberten Dasein unter unschuldig weißen Flocken erwachten. Er hatte als Junge eines dieser Kleinode besessen, es war eine echte Perzy-Kugel gewesen. Und ihr Inneres barg ein schmuckes kleines Gotteshaus...

      Je weiter derzeit Dinge von seinem persönlichem Erleben entfernt lagen, um so leichter passierten sie seine Bewusstseinsschwelle. So hätte er, wäre er dazu aufgefordert worden, die Genesis der Schneekugel momentan besser ins Bild setzen können als seine eigene.

      Jener österreichische Mechanikermeister, Erwin Perzy, der um die Jahrhundertwende per Zufall dieses so magisch anzuschauende Schmuckstück erfunden hatte, obwohl er doch eigentlich nur die Lichtausbeute von Kohlenfadenlampen hatte erhöhen wollen - Ein Meisterstück des Zufalls. Oscar fühlte sich gerade wie eine Kohlenfadenlampe, wenngleich er lieber eine Schneekugel gewesen wäre.

      Von heute aus betrachtet war jedoch die Zeit seines Höhenflugs nicht wirklich makellos zu nennen. Der Bühnenruhm, der Erfolg als Musiker überdeckte Schwachstellen der Aufführung hinter den Kulissen, abseits des Rampenlichts. Wenn die Scheinwerfer erloschen, blieb er allein. Anderes drängte sich plötzlich in den Vordergrund. Mit wem sollte er reden, außer mit Mohun und natürlich mit Saloua? Mit Varga hätte er es noch tun können, doch nein, das hatte sich erledigt...

      Er hätte sich gerne ausgetauscht, über seine Arbeit beispielsweise, über Musik, über Dinge, die ihn interessierten. Sollte er mit Joe etwa über Bachkantaten plaudern, mit Napoleon über den verkürzten Dominantseptakkord und mit Radu, Raoul oder Didi über die violão gago? Im Falle des letzteren hätte er ohnehin mit seinem Geist vorlieb nehmen müssen, denn Didi (Benjamin und Neuzugang in Mohuns Truppe) war, wie Joe es ausdrückte 'auf dem Feld der Ehre’ gefallen, sprich, er war bei der Schießerei im Rapzodie, die auch Ferenczy das Leben gekostet hatte, von einer Kugel erwischt worden, und es war keine Mozartkugel gewesen.

      Kurzum, alle diese Möglichkeiten blieben im Grunde unbefriedigend. Sicher, die Anerkennung, die er zeitweise hochdosiert erfahren hatte, vermochte vorübergehend seine Lebenswurzeln zu wässern. Doch war das auf Dauer nicht sättigend, nicht berauschend genug. Er konnte schließlich außerhalb dieser Räusche nicht immer nur mit den Elfenbein-Tasten seines Klaviers reden oder, was ihn an Plattheiten umgab, in musikalische Hologramme verwandeln.

      Dann die Zeit davor: Die erste Schockwelle, in der auch die erste Schneekugel zerbrach. Es war die Nacht nach dem Abend, an dem er mit Saloua im Kino gewesen war. Es war seine Idee gewesen. Er hatte sie dazu eingeladen. Sie sahen Orfeu Negro. Er hatte zufällig gesehen, dass der Film in einem kleinen Kino im Quartier Latin gegeben wurde.

      Das Unheil, das dann folgte, schickte seine Vorkoster, aber weder Ferenczy noch er wollten die warnenden Anzeichen beachten. Keiner von ihnen hatte einen Blick übrig für die Scharmützel, die zwischen Mohun und dem Rotfuchs abliefen, obschon diese, in Gestalt eines ersten Überfalls, bereits einmal auf das Rapzodie übergegriffen hatten. Beide nahmen das, was es an Hinweisen gab, nicht auf die leichte Schulter. Im Gegenteil, sie nahmen es auf gar keine Schulter. Sie traten es mit Füßen. Das war natürlich grob fahrlässig. Wie viele Fehler, fragte Oscar sich später, kann man sich leisten, ehe die eigene kleine Welt in Stücke bricht? Er suchte nicht nach einer Antwort auf diese Frage. Es gab vielleicht auch keine. Es war, wie wenn man sich bemühte, die Schlucke zu zählen, die einen vom Vollrausch trennten. Der Vergleich hinkte, aber dafür waren Vergleiche ja da.

      Es war Oscars letzte Arbeitsnacht im Rapzodie. Am folgenden Wochenende würde er ins Gouffre Bleu überwechseln. Die Eröffnungsfeier dort war ja bereits Geschichte, mit jenem tödlichen Nachspiel, dessen Zeuge er unfreiwillig geworden war. Und hier wurde es nun sozusagen seine Abschiedsvorstellung.

      Piff, Paff! Piff! Kurz vor Mitternacht verwandelte sich der Laden in eine Schießbude. Ein Dutzend hoch gerüsteter, schwarzmaskierter Schlapphüte stürmte das Tanzlokal. Dieses Mal wurde nicht allein das Mobiliar zerlegt, man ballerte auch um sich. Gäste gab es keine mehr, nur Teile des menschlichen Inventars, nämlich Oscar, Ferenczy, Maria, die Putzhilfe - eine alte Spanierin, sowie Raoul und Didi, die Mohun voraus beordert hatte. Oscar war, was sein Glück war, gerade auf Klo. Maria, Ferenczy und Didi starben im Bleihagel. Raoul wurde am Arm verletzt. Der Spuk war rasch vorüber. Der Überfall hatte eigentlich Mohun gegolten. Und der wäre, hätte die Vorsehung es nicht anders gewollt, zu diesem Zeitpunkt ebenfalls im Rapzodie gewesen. Dass er es nicht war, daran war sein weißer Citroën schuld. Der blieb auf dem Weg zu Ferenczys Tanzladen nämlich mit einem Kolbenschaden liegen.

      Oscar entsann sich bei dieser Gelegenheit einer Bemerkung des Wieners Laszlo Varga, dem er bei einem ihrer späteren Treffen von den Überfällen erzählte. Dessen Kommentar - nicht ohne eine Prise Schadenfreude geäußert - lautete: die Vorkommnisse sollten all denen eine Lehre sein, die meinten, der Tod sei lediglich ein Angebot im Schaufenster der Konkurrenz.

      Der Kontakt mit dem Wiener, der ihm, nachdem er das Rapzodie verlassen musste, noch einige Male über den Weg lief, hätte gegebenenfalls Bestand haben und Oscar weiterhin als Quelle dienen können, aus der die eine oder andere rhapsodische Information zu beziehen war, wenn er nicht von sich aus eines Tages, nachdem ihm seltsame Dinge über Varga zu Ohren gekommen waren, auf eine Fortsetzung verzichtet hätte.

       "Man kann es sich nicht immer aussuchen, mit wem man es zu tun bekommt."

      “Die besten Eintrittskarten sind die, die nicht im freien Handel erhältlich sind.”

      Diese zwei Sätze Vargas hatten unversehens eine zusätzliche oder doppelte Bedeutung erhalten, denn wie Oscar erst kürzlich durch Saloua erfahren hatte, frönte Varga einer Leidenschaft, die ihn zum Gesellschafter an einem zweifelhaften Vergnügen machte, bei der weder der Eintritt noch die Karten freien Spielregeln unterlagen. Er stellte sich heraus, dass er jemand war, der offenbar schon seit langem amourös im Trüben fischte. Er warf seine Angelrute nach unschuldigen, kleinen Mädchen aus. Der Wiener war ein Lolita-Mann.

      Unlängst, so Saloua, wäre die Polizei auf ihn aufmerksam geworden. Man setzte ihn für eine kleine Weile fest, konnte ihm allerdings nichts nachweisen. Inzwischen lief er wieder frei herum. Wenn es nach ihr, Saloua ginge, sollte Varga die Pest holen oder aber -, so variierte Oscar, der sich von dieser Passion nicht ganz so befremdet zeigte - ihren Wunsch auf seine Weise: das Schicksal mochte den Mann ruhig mit einer Haarzunge strafen. Ein Fortsetzungs-Gedanke, der ihm in diesem Zusammenhang kam, ging dahin sich zu fragen, warum er nicht selber Varga auf die Spur gekommen war? Stets schien er derjenige zusein, der als letzter von Dingen erfuhr, die vorübergehend als Geheimnis kostümiert, in Umlauf waren.

      Die Zeit danach, zweiter Akt, dritter Akt, Coda... Es gab Abläufe, da lagen Ich-Schichten, die sonst bedeckt blieben, plötzlich frei. Ja, man kannte sie selber kaum. Man schlüpfte in eine neue Rolle, und alles änderte sich: Stimme,Tonfall, Mimik, Gestik, selbst die Schrittfolge.

      Oscar legte kurz eine Verschnaufpause ein. Er tat das auf dem Friedhof Père Lachaise. Er hatte dort nichts Besonderes zu erledigen. Er war in einer Art Sekundärlaune, bereit für heitere wie für grimmige Scherze. Es hieß, über Tote, Kranke sowie Behinderte kursierten die übelsten Witze, aber ebenso die besten. Er verlor vorläufig keinen Gedanken