Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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zum Sand im Getriebe ihres Beisammenseins wurde. Die See, die Seelen, alles badete in Stille. Die Nachbarn waren unterwegs.

      Auch sonst störte nichts die Idylle, die in runden, warmen Schatten vor sich hin träumte. Ein Schleier lag darüber, eine Stimmung aus Leder und Seide, dazu ein Aroma wie von chinesischem Tee, den man in kühlen, dunklen Räumen trinkt, sowie zarte, sprühende Geräusche, Wohlllaute, das Zirpen des Windes, der Flügelschlag von Schmetterlingen, die noch zu munter waren, um einzuschlafen.

      Sie sprachen nicht viel miteinander, Constanze und er; jeder hing, wie man so sagt, seinen eigenen Gedanken nach. Aber sie waren, Oskar spürte das, einander verbunden, und zwar auf eine ungewohnt mildtätige, annähernd beglückende Weise. Sein Denken kreiste wieder einmal um den Vater. Manches Mal war er ihm tellurisch nah und dann wieder kosmisch fern. Der Senior hatte einen Ganoven zum Freund gehabt. Doch ließ sich, so überlegte Oskar, ein Charakter wie Mohun auf diesen unschicklichen Begriff reduzieren, konnte man das überhaupt bei irgendeinem Menschen tun? Sein Vater jedenfalls hatte sich, wie er fand, erst spät hierüber ernsthaft Gedanken gemacht.

      Oskar ist mit dem Wässern des Gartens fertig. Er schleift den Schlauch hinter das Haus, dreht zunächst das Wasser ab und rollt ihn dann zurück auf die Felge. Ich werde, überlegt er, vielleicht meine Absicht ändern und mit meiner Frau über die väterlichen Aufzeichnungen sprechen. Er schaut an sich herunter. Hose und Schuhe sind nass geworden. Auf noch etwas fällt sein Blick: Trotz regelmäßigen Lauftrainings hat sich da, auf Höhe des Revolvergurts, eine kleine Fettblase gebildet. Seine Frau ließ bereits diesbezüglich eine Bemerkung fallen.

       "Warum tr ä gst du deine Hemden nicht mal ü ber der Hose."

       "Warum sollte ich? Ist das jetzt Mode?"

      “Es wäre, glaube ich, vorteilhafterr deine Figur…und für den Betrachter.”

      Eigentlich, denkt er bei sich, spricht es aber nicht aus, sollte ich ihn lieben, meinen Bauch. Er ist das jüngste Teil an mir.

      Sie fahren eine Stunde später in den Ort, nachdem Oskar sich umgezogen hat und machen ihre Einkäufe. Was hätte in dieser einen Stunde, überlegt Oskar, nicht noch alles geschehen können? Und was war in dieser einen Stunde rund um den Erdball wohl noch alles geschehen?

      Er überlegt das, während sie im Auto sitzen und fahren. Er stellt das Autoradio an. Er wollte die Untiefen seines Denkens doch für eine Weile verlassen! Constanzes Kopftuch weht im Wind. Es hat die Farbe des Himmels. Er müsste noch mal in die Werkstatt. Irgendetwas stimmt mit dem Motor nicht. Er zeigt sich bockig. Vor ihnen fährt ein anderes Cabriolet, ein Peugeot, ein älteres Modell.

      So einen Wagen hat er früher einmal gefahren. Es herrscht viel Verkehr auf der Straße. Er hat den Peugeot damals an einen Freund weiter verkauft. Der Freund hieß Basil. Sie besuchten dasselbe Gymnasium. Er war der einzige ausländische Junge in der Klasse. Seine Eltern kamen aus Irland. Das wäre heutzutage auch nichts Besonderes mehr. Sie sind einander später noch einmal zufällig auf der Straße begegnet, Basil und er. Der andere sah sonderbar müde aus. Er grüßte kraftlos, und sie wechselten ein paar magere Worte.

      Komisch, dachte Oskar nach diesem Wiedersehen, Basil war früher doch ein Mensch voller Begeisterung, voller Tatendrang gewesen und sehr mitteilsam. Nun aber ging er gebeugt. Und die Worte quälten sich über seine Lippen. Sein Blick war glanzlos. Meine Wünsche, schienen seine rehbraunen Augen zu sagen, haben Sprechverbot. Meine Hoffnungen tragen einen Gipsverband. Was ist schon das Heute? Es ist nicht so gut wie das Gestern. Und morgen wird auch nicht mehr sein als ein hohler Pfeifton im Wind. Seine letzte Bemerkung, als sie sich trennten, war: I’m done.

      Oskar lenkt den Wagen in den Ort. Seine Frau reckt den Hals. Sie freut sich bereits darauf, über den Markt zu bummeln. Sie tut das gern. Es ist für sie eine willkommene Abwechslung, eine mit einem gewissen Festcharakter. Nicht lange nach dem Treffen mit dem Klassenkameraden erfuhr Oskar auf Umwegen, dass dieser Basil gestorben war. Den Namen der Krankheit erfuhr er nicht. Vielleicht, dachte er bei sich, ist es ja besser, wenn Krankheiten keinen Namen tragen.

      *

      Nacht der Maharadschas, der Mandarine, des Mantras, der Mandrille.

      Er blickte sich um. Eigentlich sollte man, dachte er, an dieser Stelle innehalten. Kaum, dass der amtierende Akkord verklungen war. Alles um ihn herum schien zu vibrieren. Er spielte weiter. Er improvisierte. Seine Klavierläufe, biegsam wie Grashalme, feurig wie Geschmeide, perlten durch die stark verrauchte, nitroglyzerine Barluft. Er konnte, wenn es gut lief, für Minuten vollkommen abschalten, tief in einen eigenen Kosmos eintauchen und gleichwohl die Außenwelt, wie bei einer Schlangenbeschwörung oder einem Seiltrick daran teilhaben lassen. Ja, er konnte, wenn es gut lief, jede beliebige Stimmung heraufbeschwören. Und heute lief es gut. Es fanden sich Momente darunter, die er, wäre es ihm möglich gewesen, für die Ewigkeit hätte einbalsamieren lassen.

      Oscar hatte sogar ein paar Extra-Augen für das Publikum, in Sonderheit für all die prachtvolle Weiblichkeit, die in dieser Nacht das Gouffre Bleu in ungewohnter Zahl bevölkerte. Eine blonde Schöne, eine aus der käuflichen Abteilung, sparsam bekleidet, mit einer Korona wogender Brüste und sehr roten Lippen kam einige Male zu ihm auf die Bühne und presste sich von hinten an ihn, was er willig über sich ergehen ließ, ohne sein Tastenspiel zu unterbrechen. Sie war neu im Club.

      “Wie heißt du?

      “Odile.”

      “Willst du mir nachher assistieren, Odile?

      “Aber sicher, Cherie.”

      In der warmen, üppigen Dünung ihres Busens, der seinen Hinterkopf umarmte, überlegte er sich, in welche Bühnennummer das Mädchen wohl eingebettet werden könnte. Am besten, so kam ihm die verwegene Idee, wäre vielleicht eine Fesselungsnummer, die er nur leider nicht im Programm hatte. Doch auch so würde sie, welche Aufgabe ihr immer zufiele und wäre es von allen vorstellbaren die geringste, eine köstliche Beilage in der Speisefolge seiner musikalischen Darbietungen sein. Sollte er nicht überhaupt, so setzte er seine Überlegungen fort, dazu übergehen, neben dem im Hintergrund agierenden Pepe, einen weiblichen Part in seine Bühnenshow mit einzubinden? Es gab, wenn er Pause machte, die Auftritte der Tanzgirls, doch war das nicht vergleichbar.

      Oscar blickte sich während der nächsten Spielpause im Saal um. Er schritt, nachdem er sich mit einem Handtuch, beflissen dargereicht von Pepe, den Schweiß abgetrocknet hatte, hinüber zur Bar und gönnte sich einen Whisky. Es war wie üblich eine Menge halbseidenes Volk im Publikum: Falsche Wimpern, falscher Luxus, Goldketten-Glamour, schusssichere schwarzgraue Westen, Spieler, Sex, Opiate, Gewaltinstinkte. Es gab strenge Regeln in diesem erotischen Mysterienspiel, Regeln, an die man sich besser hielt, wollte man nicht riskieren, seine Unversehrtheit einzubüßen. Angenehmer wäre es gewesen, man hätte sie, ohne Schaden zu nehmen, außer acht lassen können. Und noch angenehmer, hätte er, Oscar seine eigenen Regeln setzen können, so wie Frank Freyer Mohun, dessen Herzschlag vermutlich den höchsten Punkt der Erregungskurve dort streifte, wo er in dem Bewusstsein handelte, genau das zu tun. Denn das war er: ein Regelsetzer.

      Oscar trank seinen Whisky. Er wechselte ein paar Worte mit dem Barkeeper, den er mochte und der ihn mochte. Gerard war einer der Dienstältesten in Mohuns Team, fast so alt wie Oscar. Er stammte aus Deauville, war früher Kaskadeur gewesen und strahlte im lebhaften Widerstreit mit seinen verknitterten Zügen männliche Virilität aus. Er war ein großer Mann, eine Schrankwand.

      Ab und an kamen Gäste auf Oscar zu, um ihm zu sagen, wie sehr ihnen sein Bühnenprogramm gefalle, meistens waren es Frauen. Ja, Oscar war jetzt ein kleiner Star. Er sonnte sich streckenweise in seinem Erfolg, nicht auffällig, aber erkennbar für die, die ihn besser kannten. Er wollte nicht zu viel davon. Denn wer viel hat, dachte er, hat auch viel zu verlieren...

      Oscar wälzte sich, die Wachbilder