Es war der vorläufig letzte klare Gedanke, denn zu weiteren reichte es nicht mehr in dem nun einsetzenden Tumult. Die drei heranstürmenden Gestalten holten den flüchtigen Jungen ein und packten ihn, während er sich verzweifelt zur Wehr setzte und gleichzeitig an Oscar festklammerte. Dann stürzten zwei schwarz gekleidete Frauen mit Kopftüchern hinzu. Sie schlugen mit Handtasche und Regenschirm abwechselnd oder gemeinsam auf die drei Verfolger ein. Sie schimpften und jammerten lauthals mit grellen, sich überschlagenden Stimmen. Auch der verfolgte Junge jammerte. Es war ein einziges Durcheinander.
Schließlich kreuzte die Gendarmerie auf, und alle, auch Oscar, mussten mit auf die Wache. Man ließ ihn warten. Also wartete er. Auf das Ende des Dramas. Nach anfänglicher Nervosität beruhigte er sich. Neben ihm saßen die beiden Frauen, eine hatte Nähzeug dabei, das sie irgendwann auf ihren Knien ausbreitete. Sie strömte einen heftigen Knoblauchgeruch aus. Die zweite redete unaufhörlich.
Was bliebe, fragte er sich, wenn alles, was zu viel ist, fehlte? Etwas tief in ihm antwortete: Das Notwendige. Aber was war das Notwendige? Die Frage entglitt ihm wieder. Die an der Schlägerei beteiligten Burschen hatte man nach hinten verbracht. Ein Gendarm war zurück geblieben und war damit beschäftigt, mit dünnen Bleistiften Mikado zu spielen.
Sein Kopf war groß. Sein Kopf war plump. Und der Rest des Mannes übergewichtig. Die Sitzhaltung hatte etwas unerhört Starres. Irgendwann öffnete sich der fleischige Mund. Es war kein Schrei, nicht einmal ein Laut, der heraus hüpfte, nur etwas Speichel.. Dann reckte der Beamte sich träge. In dieser Bewegung lag nichts, was beispielsweise an ein Hüftleiden gemahnte, dazu hielt er sich zu gerade. Er machte, wenn überhaupt, keinen kranken Eindruck. Eher schon wirkte er gelangweilt, abgestumpft, gleichgültig, interesselos, abwesend, kurz: unbeteiligt.
Oscar war der Mann von Anbeginn wenig sympathisch. Er wurde schließlich nach vorne gewunken, und der Gendarm nahm ein kurzes Protokoll auf. Oscar geriet etwas ins Schwitzen, doch stufte man ihn, wie sich zu seiner Erleichterung in der Befragung herausschälte, nur als Zeuge ein, und als solcher wurde er auch vernommen. Er hatte weiter nichts auszustehen. Nach einer knappen Stunde wurde er entlassen.
Er war also wieder frei und im Freien. Die Himmelsschüssel wölbte sich beinahe liebevoll über dem mausgrauen Rücken der Stadt. Paris wirkte aufgeräumt, fast geschwätzig jetzt mit seinen geschäftig hin und her eilenden Bürgern, seinen einmal ruhig, einmal hektisch rollenden Automobilen, seinen Quarrees, diesen akkurat angelegten Grüninseln, seinen Hotels mit den Großbuchstaben, seinen examinierten Museen, seinen opulenten Marktständen, seinen einladend duftenden Restaurants und Cafés, seinen stolzen Brücken und schweigsamen Statuen, seinen bunten Kiosken, seinen schlangennestverwandten Jugendstil-Eingängen an den Metrostationen und der in ein ungesalbtes Licht getauchten, wie morphiumsüchtig vor sich hin murmelnden Seine.
Oscar hatte Hunger und Durst. Er verwarf die Idee, Saloua aufzusuchen, ging stattdessen in eine nahe Brasserie und bestellte ein frisch gezapftes Bier. Er besann sich auf die Ereignisse der jüngsten Zeit. Es war überwiegend ein Überkreuz-Muster aus verknoteten, unentwirrbaren Fäden. Das Nachdenken darüber konnte zum Geduldsspiel werden. Doch störte es ihn vorübergehend nicht. Er schaltete es weg, als wäre es eine störende Verkehrsdurchsage im Radio.
Kapitel 16
Es ist ein Fall für den Sankt Nimmerleinstag.
Timo steigt aus dem Porsche. Oskar hat das bereits getan und steht, bei geöffneter Blechhaube über den Motorblock gebeugt, im hellen Sonnenschein ratlos da. Es gibt einen Defekt, aber er findet ihn nicht. Sie sind liegen geblieben. Auf freier Strecke. Niemand in Sicht, weit und breit. Keiner der beiden hat etwas dabei, um zu telefonieren. Ein Abschleppdienst wäre jetzt prima.
“Was machen wir?”
“Warten.”
“Du lieber Himmel.”
“Wir könnten auch zu Fuß gehen.”
“Wohin?”
“Zur nächsten menschlichen Ansiedlung.”
“Bei der Hitze?”
“Oder wir versuchen es per Anhalter.”
“Ja, wenn denn mal jemand vorbeikäme,Oss.”
Eine Idee muss nicht schlecht sein, um schlecht zu werden. Diese hier wird bald ranzig. Sie stellen sich an die Straße, aber es kommt kein einziges Fahrzeug.
Als alles nichts nützen will, anders ausgedrückt: als das Warten sich ins Unendliche zu verlängern droht, setzen sie sich auf einen Stein, jeder auf einen anderen und harren der Eigenheim-Zulage. Oskar murmelt halblaut vor sich hin.
"Die Dinge zeigen sich momentan nicht von ihrer Schokoladenseite."
"Du sagst es, Os s. ”
So könnte jetzt der anschwellende Tag verstreichen, um sich nahtlos in eine Lichterkette von Folgetagen einzureihen, die weiter nichts gemeinsam haben als die glitzernden Wellenkämme einer hochsommerlichen Wetterlage, die aber weiter auch nichts zu trennen scheint.
Ein klöppelndes Geräusch lässt sie aufhorchen. Es stammt von den Hufen einer Schafherde, die in einiger Entfernung aufgetaucht ist. Man sieht weder den Hirten noch dessen Hund. Sie werden aber sicher bald zu sehen sein. Ein Lichtblick am Horizont? Wer weiß. Der Hirte wird ihnen vielleicht gar nicht weiterhelfen können, es sei denn, dass moderne Hirten mittlerweile ein Mobiltelefon bei sich tragen und dieser ein solcher ist.
Wie sich herausstellt, hat der Hirte kein Mobiltelefon, dafür aber einen Raben auf der Schulter. Beide sind nicht sehr gesprächig. Auch der Hund, der später dazu stößt, nimmt von den zwei Gestrandeten und ihrer Autopanne kaum Notiz. Immerhin verspricht der Hirte, dessen gegerbtes Gesicht ein weißer Vollbart rahmt, der trotz der Hitze einen langen, schwarzen Umhang trägt und dessen Alter etwas Unbestimmbares hat, er wolle, falls er unterwegs jemanden träfe, diesen, wenn er in der Angelegenheit in Frage käme, darum bitten, nach Hilfe Ausschau zu halten.
Die Rede des Hirten ist karg und, wie Oscar bemerkt (und auch Timo wird es bemerkt haben), ein wenig umständlich. Er bietet ihnen, bevor er mit seiner Herde weiter zieht, noch zwei Äpfel und etwas Hartkäse an, was sie dankend annehmen. Dann sind sie wieder allein, ein Zustand, an den man sich gewöhnen kann, solange es tagt und die meteorologischen Verhältnisse nicht zu sehr ins Sonderbare oder Extreme tendieren. Mittag ist vorüber, und es ist schwindelnd heiß. Doch zeigen sich in der Ferne einige sahnige Wolkenschnitten, und etwas Wind kommt auf.
"Wir hocken hier wie die ersten Menschen."
" Eher wie die letzten, würde ich sagen . ”
"Vielleicht sollten wir doch ein bisschen umherlaufen, Os s."
"Juckt es dich in den Beinen?"
"Es geht. F ü hle mich soweit ganz frisch, bis auf ein zartes Kopfweh."
Oskar kratzt sich ausgiebig am unrasierten Kinn und fügt in Gedanken stumm hinzu: Was nach unten hin noch in Ordnung ist, erweist sich nach obenhin mitunter als Desaster. Es ist dies ein mittelloser Gedanke, der voraussichtlich Unikat bleiben wird.
Oskar studiert das ferne Gewölk, seine Gestalt, seine Bewegung. Manches gleicht Zigarren, anderes zerfetzten Lumpen. So ungleichmäßig das eine ist, die Gestalt, so gleichmäßig zeigt sich das andere, die Bewegung. Es ist, als würde beides einander anziehen und ergänzen. Als Kind fragte sich Oscar, ob da oben wohl Uhren ticken, und wo hinter den Wolken die Zeitschranke liegt.
"Was meinst du, Timo, werden wir uns hier selber ein Denkmal setzen, oder werden es am Ende andere tun?"