Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
Скачать книгу
mochte, überlegte Oscar, wenn er noch einmal ein junger Mann hätte sein können, ausgelassen, unsicher, verspielt, melancholisch, heiter? Aber ich bin ja jung, dachte er, innen bin ich es, da hat sich nichts verändert, da bin ich derselbe geblieben, und wenn ich je ein anderer war, dann nur in den Augen einer ignoranten Mitwelt.

      Für einen stillen, stillstehenden Moment blieben die Wände seiner Vergangenheit farblos und nackt, ehe sich plötzlich Bilder ankündigten. Tausendfach. Aus ungezählten Stunden durchwanderten sie seinen Schädel. Nicht eines aber war anfangs darunter, dass ihm gefallen wollte. Zu viele Schatten. Doch ganz ohne Schatten, das musste er zugestehen, blieben die Dinge flach und leblos. Er ging weiter zurück in der Zeit, in seiner Zeit, fort von einer Gegenwart, die einen so fest umfangen halten konnte und die zugleich so flüchtig war, zu flüchtig, um sie - wenn man denn den Vorsatz dazu hatte - wirklich fassen zu können, die andrerseits aber eine unbändige Kraft zeigte, mal als Faust mal als Gebärende, während Vergangenes und Zukünftiges nur unzuverlässige Kavaliere zu sein schienen, die ihr höflich oder auch scheinheilig den Arm boten.

      Er raste, wie in einem Kinofilm, den er früher einmal gesehen hatte, in der Zeitmaschine rückwärts, in einer rasanten Achterbahnfahrt; Kulissen flogen vorüber, Moden wechselten, die Auslagen der Schaufenster; Schlagzeilen änderten sich, Gesichter, Wolken, Jahreszeiten, und einzig letztere kamen in Wiederholung. Am Ende stieß er auf etwas, das ihn erstaunte. Auf ein Bild aus seiner Kindheit. Es war ein Klassenfoto. Darauf sah man ihn im Kreise seiner Mitschüler, zweite Reihe, der dritte von links, stehend; mit einer Kappe auf dem blonden Haarschopf (ja, als Kind war er blond gewesen), ein kleiner Wildfang, offen und neugierig der Blick, doch auch ein bisschen melancholisch, und der Kamera zugewandt.

      Oscar schielte in die Runde, schob den Ascher weg. Er fing einen Blick Mohuns auf. Hatte der ihn jetzt beobachtet? Mit seinen großen, stets wachsamen Augen? Egal. Er schloss die Filmbüchse. Es war ein kurzer, steiler Tauchgang geworden. Im Express-Tempo, hinein in die privaten Tiefseegräben, in die eigenen Abgründe…

      Nein, so wollte er in diesem Fall nicht urteilen. Sie war ja sanft ausgeklungen, seine innere Bilderfolge. Abschließend schmückte er sie mit einem Kommentar seines Klavierlehrers Samrei:

      Eine schöne Erinnerung ist wie ein schönes Weib, mit einem Unterschied: sie altert nicht.

      “Ich verschwinde jetzt, Oscar.

      “Ich bleibe noch.

      “Was geht vor hinter deiner blassen Stirn? Ich frage mich das manchmal.

      “Das Übliche.

      “Das glaube ich dir nicht... Pass auf dich auf. Wenn du der Polizei in die Arme laufen solltest: Du weißt von nichts. Ich melde mich von unterwegs. Falls du einen Rat brauchst, halte dich an Joe. Und mach mir keinen Ärger, hörst du! Sei ein braver Junge.

      “Ich hoffe nur, ehm, dass hier nicht alles drunter und drüber geht, während du weg bist.

      “Wir müssen da jetzt durch. Ich werde bald wieder zurück sein. Du schaffst das schon. Zeig, dass du ein ganzer Kerl bist. Jetzt hast du Gelegenheit dazu. Adieu!

      Mohuns Stimme war ungewohnt sanft. Er hob die flache Hand zum Abschiedsgruß und verschwand. Wenigstens hatte er sich verabschiedet. Oscar hatte schon geglaubt, er würde einfach so absegeln, den Scherbenhaufen einfach so zurücklassen. Nein, er hatte sich gestern überraschend noch einmal gemeldet und die heutige Verabredung angeboten.

      Was würde er, Oscar, selber jetzt tun? Für die nächsten Tage hatte er frei. Erst musste das Gouffre Bleu wieder flott gemacht werden. Es sah aus wie nach einem Luftangriff. Damit hatte er nichts zu schaffen. Darum kümmerten sich Joe und die anderen. Er konnte vorläufig zuhause bleiben. Dort allerdings fiel ihm, das wusste er, die Decke auf den Kopf, mehr noch, das Dach des Universums. Er wollte auch nicht wieder mit dem Trinken anfangen, hatte er sich doch schon, was das anbetraf, letzthin recht erfolgreich dagegen gewehrt, beständig Bruder Martin als Gesellschafter um sich zu haben. Aber war das eine Sache des freien Willens? War der Wille überhaupt frei, oder war er vielleicht nur ein Lesezeichen? Oscar erhob sich, pfiff durch die Zähne. Und was, sehr verehrtes Publikum, spielen wir als Nächstes? - Musik für kommende Festtage.

      Kapitel 17

      “Jungs, ihr könnt nach Hause gehen!

      Er kam hinter dem Kasten hoch. Zunächst sah man nur Stirn und Halbglatze und eine in Zeitlupe tastende Hand. Dann folgte das Gesicht des Turnlehrers. Es wirkte derangiert. Schließlich kam der gesamte Mann zum Vorschein. Die Sportstunde war unerwartet beendet. Die Schüler schauten ungläubig, einige grinsten voller Schadenfreude, darunter auch Oskar.

      Turnlehrer Löw hatte eine Übung vorführen wollen, einen Sprung über den Sprungkasten. Damit seine ungelehrigen Schüler einmal hautnah miterleben konnten, wie man das richtig anstellte. Dr. Löw machte es leider falsch. Es wurde eine Bruchlandung, mit, wie sich später herausstellen sollte, verstauchtem Handknöchel. Zwei seiner ‘Jungs’ eilten ihm zu Hilfe. Es waren, wie immer, Herbert und Jim. Sie waren die Streber in der Klasse. Sie machten gerne den Mundschenk, den Arschabwischer oder den Boten für die Herren Pädagogen. Sie rauchten nicht in den Pausen auf dem Schulhof, erledigten stets brav und ordnungsgemäß ihre Hausaufgaben, und kamen nie zu spät. Der eine wurde Leiter einer Sparkassenfiliale, der andere Trinker und Spieler.

      Oskar meint in den Aufzeichnungen seines Vaters eine durchgehend passive, ja deterministische Unterströmung entdeckt zu haben. Und dazu ist ihm gerade eben aus der eigenen Vorgeschichte besagte Schulszene in den Sinn gekommen. Die einstigen Schulkameraden und das was aus ihnen geworden ist... Man hätte in manchen Fällen vorhersagen können, wer zu welcher zukünftigen Aufgabe bestimmt sein würde, in manch anderen, wo es besonders absehbar erschien, hingegen nicht.

      Oskar betritt den Garten. Genug dieser Betrachtungen. Er will etwas Praktisches, etwas Handfestes tun. Er hat sich entschlossen, den Rasen zu bewässern. Damit der nicht komplett austrocknet. Er müsste es nicht, doch er tut es. Hinter dem Haus neben der Garage ist ein Wasseranschluss. Dort hängt, aufgewickelt auf einer rostigen Metallfelge, ein Schlauch. Er hat den Schlauch ausgerollt, dann den Wasserhahn aufgedreht und sprengt nun eifrig das dürstende Grün. Constanze wundert sich. Sie steht in der offenen Terrassentür.

      “Willst du unserem Nachbarn Konkurrenz machen?

      “Der mäht, ich wässere. Das ist ein elementarer Unterschied.

      “Und wie lange wirst du da jetzt den Regenmacher spielen?

      “Warum?

      “Weil wir noch einkaufen müssen.”

      “Keine Bange, Stänzchen. Es wird nicht lange dauern.

      “Na schön. Aber... verspritz dich nicht!

      Sie geht ins Haus. Er lächelt amüsiert. Ob auch sie lächelt, kann er nicht sehen, da sie ihm den Rücken zuwendet. Er ist versucht, kurz und lüstern den Schlauch auf sie zu richten. Er lässt es. Es wird auch so ein schöner Tag werden.

      Morgen will Timo eintreffen. Gestern Abend rief er an. Aus der französischen Hauptstadt. Es könnte etwas später werden als geplant, teilte er ihnen mit. Oskar richtet die Wasserdüse in eine andere Richtung, dreht an dem verstellbaren Kopf, fächert den Strahl etwas weiter auf, so dass er eine größere Fläche des Rasens benetzt.

      Gestern Abend, als der Anruf kam, saßen Constanze und er, wie so oft auf der Terrasse, nahmen dort das Essen ein. Gestern Abend gab es Ochsenmaulsalat und Fisch. So manches Meeresgetier, das man auf den hiesigen Märkten erwerben kann, kennen sie von zuhause gar nicht. Es wurde ein milder Abend.