Einen Verlängerten bitte. Elisa Herzog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisa Herzog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738021011
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      Sue zog unwillkürlich den Bauch ein und strich ihren Rock glatt. Bist du blöd, schalt sie sich selbst. Sie sollte ihre Energie lieber für andere Dinge einsetzen, als vor einem Model mit eingezogenem Bauch punkten zu wollen, denn eines war klar: Sie würde in diesem Leben nie mehr Größe 34 tragen (bereits Größe 38 war fraglich), und wie man um drei Uhr nachmittags noch wie frisch aus der Dusche aussehen konnte, würde sie bis zu ihrem letzten Tag nicht mehr herausfinden. Sie fühlte sich schmutzig, minderwertig und alt. Ja alt, gegenüber einer Frau, die genauso alt war wie sie.

      Wie konnte man nur so glatte Haut haben? Sie war sich sicher, dass Botox im Spiel war, denn nicht einmal Amy mit ihren 15 Jahren hatte beim Stirnrunzeln eine glatte Haut. Und so tolle Haare, immer perfekt geföhnt? Wahrscheinlich musste diese Frau nicht einmal föhnen. Verdammt, irgendjemand saß da oben über dem dunstgrauen Himmel und machte sich einen Spaß daraus, die äußeren Reize der Gattung Mensch sehr ungerecht zu verteilen. Ein Zyniker war der Himmlische obendrein, denn diese Begünstigte war auch noch nett. Und intelligent. Über Paulinas Abschluss in internationaler Politik und Wirtschaft wollte Sue gar nicht nachdenken. Auch nicht über die Stiftung, die Paulina gegründet hatte und deren Wohltaten tschechischen Waisenkindern und misshandelten Frauen zugute kam.

      „Sue“, begrüßte Paulina Sue und lächelte ihr berühmtes Lächeln, das im Moment auf allen Londoner Bussen durch die Stadt fuhr. Sue hatte vergessen, wofür es werben sollte. Nur das Lächeln war unvergesslich. Es war so weiß, dass es blendete. Sue machte sich eine mentale Notiz, sobald wie möglich zur Zahnreinigung zu gehen. Vielleicht sollte sie auch über ein Bleaching nachdenken. Das brachte angeblich ein paar Jahre.

      „Ist Ihr Mann nicht dabei?“ Paulina lächelte wieder.

      „Er ist gerade im Fernsehstudio“, antwortete Sue.

      Terence. Irgendwie ging es in ihrem Leben immer nur um Terence. Sie selbst war anscheinend nicht Small-Talk-tauglich.

      „Ach der Arme“, meinte Paulina. „Ich gehe mittlerweile nur noch ins Studio, wenn es für meine Stiftung sein muss. Aber es ist schade, dass ich die Sendung nicht sehen kann. Ihr Mann ist so unglaublich telegen.“

      Sue lächelte gezwungen. „Na ja, Sie sollten ihn mal morgens beim Frühstück sehen. Sind Sie auch ohne Mann hier?“

      Paulina seufzte und auf ihrer Stirn wurden für den Bruchteil einer Sekunde drei Querfalten sichtbar (wirklich gutes Botox, dachte Sue), doch ehe sie nachzählen konnte, waren sie schon wieder verschwunden (fantastisches Botox. Sie musste an die Adresse kommen!).

      „Lester ist natürlich auch unabkömmlich. Als ich klein war, dachte ich immer, Earls und Prinzen müssten nicht arbeiten. Da habe ich mich wohl getäuscht.“

      Lester Worthington war eine große Nummer in der Immobilienbranche, die Familie selbst hatte mindestens fünf Häuser, besser gesagt, Residenzen. Allein in England. Paulina lachte, brach jedoch abrupt ab, als es von der anderen Straßenseite her klick machte. Sie seufzte genervt und wandte sich ab, Sue jedoch sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. In einem alten Fiat saß ein glatzköpfiger Mann, der eine Kamera auf Paulina hielt. Sue drehte sich ebenfalls ab und folgte Paulina, die bereits das schützende Dunkel der Eingangshalle erreicht hatte. Sie hatte keine Lust, als Anhängsel der berühmten Paulina in einem Magazin wie Grazia oder InStyle zu erscheinen. Obwohl, wahrscheinlich würde man sie sowieso wegretuschieren, um das Bild dieser 1,80 Meter großen Nymphe, die in ihrem Etuikleid wie ein Gemälde wirkte, nicht zu zerstören. Da nützten auch ihre eigenen Louboutin Schuhe und ihr Stella-McCartney-Kostüm nichts.

      „Das war Riff Jones“, murmelte Paulina, als sie im schützenden Dunkel der Aula standen. „Einer der Schlimmsten. Muss der verzweifelt sein, wenn er schon vor einer Schule herumlungert. Was ist so interessant daran, wenn ich auf ein Schulfest meines Sohnes gehe?“

      Sue zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es wie bei den Piloten und er braucht ein paar Schnappschüsse, um seine Fotografenlizenz zu erneuern.“

      Paulina kicherte. Inzwischen hatten sie den Garten erreicht und tauchten in die erfrischende Kühle der riesigen Eichen und Buchen ein, die das Gewusel und den Lärm von schätzungsweise hundertfünfzig Menschen mit majestätischer Gelassenheit hinnahmen. Paulina atmete tief ein. „Ah, ist das schön hier. Allein der Garten ist das ganze Geld wert.“ Als sie ausatmete, verzog sie das Gesicht. „Achtung, Lady Wichtig ist im Anmarsch.“

      Melissa Brown-Harryman. Gott hatte bei ihrer Anfertigung offensichtlich etwas Zahnmaterial übrig gehabt, denn ihr Gebiss hätte jedem Vollblüter zur Ehre gereicht. Kein Kieferorthopäde hatte jemals Hammer und Meißel an diese Kreation gelegt, an der gerade Lippenstiftreste in einem süßlich pastelligen Pfirsichton hafteten. Sie trug ein Wickelkleid in einem lila-braunen Retro-Muster, das schlaff um ihre nur ansatzweise vorhandenen Brüste hing. Dazu trug sie schwarze Leggins und Jesus-Latschen.

      „Liebste Paulina!“, rief Melissa. Ihre Stimme drohte vor Enthusiasmus zu kippen. „Schön, dass es noch geklappt hat. Wir müssen dringend Fotos für den Jahresbericht machen. Sie haben doch nichts dagegen. Ich hatte mir gedacht, Sie als Profi?“

      Paulina nickte ergeben.

      „Und Sie, Sue“, nun wurde Melissas Ton strenger, „Sie werden schon am Würstchenstand erwartet. Die Meute hat Hunger!“ Sie klatschte in die Hände, und als sie lachte, sah sie mehr denn je aus wie ein Pferd, das sich für eine Burlesque-Show verkleidet hatte.

      Nachdem Sue gefühlte tausend Hot Dogs zubereitet und abkassiert hatte, gab ihr Sohn Philipp sich zum ersten Mal an diesem Nachmittag die Ehre. Natürlich um eine kostenlose Mahlzeit zu schnorren.

      „Mama, kann ich ein Würstchen?“

      Trotz teurer Schule litt auch er an der Kinderkrankheit, konsequent das Verb bei Fragen wegzulassen. Er war völlig verschwitzt und hatte sich das Polohemd in den Schulfarben dunkelbraun und grün ausgezogen. Ein leichter Schweißgeruch umgab ihn, auf den Philipp mehr als stolz war. Jeden Abend gab es Theater, wenn Sue ihn unter die Dusche steckte. Mit leiser Wehmut strich sie ihm über den Kopf. Jetzt wurde auch ihr Kleiner langsam groß. Seine dünnen Arme und die Schulterblätter, die wie Engelsflügel aus seinem Rücken ragten, waren jedoch noch hundert Prozent Kind. Verlegen wand er sich aus ihrer Nähe. Sue trat einen Schritt zurück. Mutter kurz vor Schmuseanfall, wie peinlich. Sie konzentrierte sich darauf, ihm ein Hot Dog mit besonders viel Ketchup zu machen. Philipp riss es ihr aus der Hand, und sie konnte ihm gerade noch zurufen, etwas zu trinken, als er bereits wieder in den Weiten des Schulgartens verschwunden war, eine rote Tropfspur hinter sich lassend.

      „Mrs Urquhart“, riss eine Stimme, die nach quietschender Kreide auf einer Schultafel klang, Sue aus ihren Gedanken.

      „Mr Shalby“, rief sie erfreuter, als sie tatsächlich war.

      Mr Shalby war der Schuldirektor und daher wichtig. Obwohl er ein Idiot war, der den Zusammenbruch des englischen Weltreichs noch nicht verinnerlicht hatte und wahrscheinlich in seinem Schrank ein Poster von Königin Victoria hängen hatte. Außerdem schien sein Adamsapfel ein Eigenleben zu führen. Als Shalby weiter sprach, hüpfte er irritierend vital unter der dürren Haut auf und ab.

      „Ihr Mann ist nicht zufällig hier?“

      Irgendetwas in ihr seufzte auf. Verdammt noch mal, ich bin hier. ICH! Eine Frau von 41 Jahren, gesegnet mit zwei Kindern, einem übervollen Terminkalender und einem blockierten Leber-Galle-Meridian. Und Träumen! (Wobei ich momentan gar nicht weiß, wovon ich eigentlich träume.) Und merkt es euch alle: Ich bin nicht der nutzlose Wurmfortsatz von Terence Urquhart! Es würde so verdammt gut tun, all das in diese sogenannte gute Gesellschaft hinaus zu schreien, aber natürlich benahm sie sich.

      „Er wäre so unglaublich gerne gekommen“, zwitscherte Sue, „aber er ist bei einer Live-Sendung im Fernsehen. Was soll man machen?“

      Shalby zog anerkennend die Augenbrauen in die Höhe. „Erfolg kommt nicht von Nichtstun, nicht wahr?“ Er beugte sich näher zu Sue, woraufhin sie zurückwich. Sie legte wenig Wert darauf, die Anzahl der geplatzten Äderchen auf seinen Wangen zählen zu können.

      „Vielleicht