„Ich leite ein Seniorenheim, und wir haben Schlagzeilen gemacht, wenn ich das so sagen darf“, meinte sie und betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel. „Also der Lippenstift, den mir diese Maskenbildnerin da aufgetragen hat – das bin nicht ich.“ Sie nahm sich ein Papierhandtuch und wischte das dunkle Bordeaux resolut weg. „Da nehme ich doch lieber meinen eigenen“, murmelte sie und trug einen dezenteren Rosenholzton auf.
„Schlagzeilen?“ Sue konnte sich im Zusammenhang mit Altenheimen an keine Sensationen erinnern. Keine Morde aus Barmherzigkeit, keine Fesselungen, keine Hungertoten.
„Wir legen Wert darauf, dass das Sexualleben unserer Bewohner nicht zu kurz kommt.“
Sue verspürte einen leichten Brechreiz. Okay, es war unfair, jeder wurde alt. Aber geriatrische Leiber, in Ekstase miteinander verbunden, das war, ja, was war es? Vorsichtig ausgedrückt gewöhnungsbedürftig.
„Es ist ein Tabu“, sagte Polly und traf damit für Sue den Nagel auf den Kopf. „Die Alten werden ausgegrenzt, und dabei haben auch sie sexuelle Bedürfnisse. Sie würden sich wundern.“ Sie musterte Sue im Spiegel. „Schockiere ich Sie, Schätzchen?“
Sue hüstelte. Gott war das peinlich.
Polly lächelte. „Als ob man seine Libido ab dem Sechzigsten abgibt.“ Sie sah auf die Uhr. „Ups, jetzt haben wir uns richtig verplaudert. Und ich muss auch noch mal…“
„Aber natürlich“, meinte Sue. „Nicht dass sie noch zu spät zur Sendung kommen.“
Als sich die Tür zur Kabine schloss, rief Sue: „Ich drücke Ihnen die Daumen!“
„Danke“, tönte es ein wenig atemlos zurück.
Auf einmal freute Sue sich auf die Sendung. Sie versprach, ziemlich spannend zu werden.
Als Sue in die Maske zurückkam, war Sondra Anderson, die Moderatorin von No Limits, bereits da. Irgendwie gelang es dieser Frau immer, ein Körperteil an Terence anzudocken. Vielleicht war sie gar nicht nymphomanisch, wie Sue immer gedacht hatte, sondern litt an Frotteurismus? Krank war diese Frau auf jeden Fall. Hätte Sue die Berichte der Klatschmagazine, die über die Affären dieses blond gefärbten, abgesaugten und zugegebenermaßen von einem begnadeten Schönheitschirurgen gestraffte Faktotums des englischen Fernsehens gesammelt – Sondra war seit mehr als einem Vierteljahrhundert aktiv –, könnte sie leicht ihren Vorgarten damit pflastern.
Gerade war es Sondras Fuß, der wie zufällig seinen streifte, als sie sich zu Fiona beugte, um einen Blick auf die Gästeliste zu werfen. Terence merkte jedoch nichts, da er gerade dabei war, Chris, dem Produktionsassistenten des Verlags, der im nächsten Monat sein neues Buch „Unlust als zweite Chance“ herausbringen würde, einige Änderungsvorschläge in letzter Sekunde zu unterbreiten.
„Mir sind gestern noch einige Gedanken untergekommen, die ich gerne noch in einem Extrakapitel einfügen möchte.“
Sue konnte förmlich spüren, wie sich Terences Gesprächspartner verkrampfte. Du liebe Güte, die Druckfahnen waren fertig! Die ganze Woche hatte sie Korrektur gelesen, weil das Manuskript morgen in Druck gehen würde, und jetzt kam ihr Gatte mit brandneuen Ideen. Zum Glück verkauften sich seine Bücher extrem gut – nur deshalb war der Verlag bereit, den immensen Verschleiß an Betreuungspersonal zu akzeptieren. Chris Lubin schien ihm jedoch ein ebenbürtiger Gegner zu sein, und Sue wunderte sich, dass Terence schließlich mit den Worten „Dann habe ich gleich den Aufhänger für mein nächstes Buch“, nachgab.
Kaum hatte Terence das Gespräch beendet, setzte Sondra ihre zugegebenermaßen sehr anziehende Stimme ein (gerade so tief, dass sie nicht nach Stripperclub roch).
„Terence Darling“, gurrte sie. „Wie immer auf den letzten Drücker.“
„Ich bin begehrt, meine Liebe“, gab Terence zurück, „was soll ich machen?“
„Still sitzen und mich meine Arbeit machen lassen“, meinte Paula und drückte ihn wieder in den Sessel zurück. „Sie sind heute sehr unruhig, Terence“, tadelte sie ihn.
Er warf Sue einen hilfesuchenden Blick zu.
„Er hat heute sein Ritalin noch nicht genommen“, erwiderte Sue.
„Ritalin?“ Paula hörte auf, an Terence herumzunesteln.
„Kleiner Insiderscherz“, lächelte Terence. „Vergiss es. Ich habe mich im Fitness-Studio etwas verausgabt.“
So konnte man es auch nennen.
„Noch ein paar Worte zur Sendung“, unterbrach Sondra das Gespräch. Sie konnte es nie leiden, wenn sich nicht alles um sie drehte.
„Gibt es was Neues?“, fragte Terence, nur mäßig interessiert.
„Du musst heute ein bisschen vorsichtiger sein.“
„Was soll das heißen? Sondra, bei uns geht es um Sex. Oder meinst du Safer Sex, dann spreche ich kurz über Kondome.“
Fiona kicherte. „Das möchte ich sehen, wie dieses Krampfaderngeschwader sich Kondome anlegt.“
Sondra warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Ich lieber nicht, aber die Senioren sind unsere Hauptzuschauergruppe. Und heute haben wir das Studio voll von Insassen eines Wohnstifts. Das heißt nicht weniger, als dass wir gewisse Regeln des Anstands wahren müssen.“
Sue musste grinsen. Wenn das die Zöglinge von Polly Myers waren, würde sich die Dame ganz schön wundern.
Terence sah zu ihr auf. „Soll heißen?“
„Soll heißen, dass wir das Thema vielleicht ein klitzekleines bisschen entschärfen. Und vor allen Dingen“, sie deutete mit dem Finger nach oben, „Order aus der obersten Etage: klare Ansagen, einfache Satzstellung und vor allem, keine schmutzigen Wörter. Die sind ein absolutes No go.“
„Uh, jetzt habe ich aber Angst. Vielleicht sollte ich noch mal mitschreiben“, sagte Terence.
„Ich kann es gerne noch mal wiederholen“, setzte Fiona an.
„Nicht nötig“, fuhr Sondra sie an. „Ich glaube, er hat verstanden.“
„Entspanne dich“, sagte Terence in seinem Therapeutentonfall, „bin ich der Experte oder die da oben?“
Sondra seufzte, als trüge sie die ganze Last dieser schrecklichen Welt auf ihren Schultern. „Fertig?“
„Übrigens Schatz“, meldete Sue sich zu Wort. „Ich kann leider nicht bis zum Schluss bleiben.“
Terence sah stirnrunzelnd zu ihr auf, während Sondra die Augen verdrehte. Es war ja auch eine Art Majestätsbeleidigung, wenn sich die uninteressante Frau des Stars mit einem belanglosen Wortbeitrag meldete.
„Mein Dienst auf dem Sommerfest fängt eine Stunde früher an. Wenn ich nicht pünktlich bin, macht Philipps Lehrerin mir wieder die Hölle heiß.
Terence hatte eine derart verständnislose Miene aufgesetzt, als hätte sie ihn gebeten, aus einer Ananas und einem Paar Schuhe ein Gulasch zu kochen.
„Dein Sohn. Sommerfest. Schule. Würstchenstand.“ Manchmal war es besser, Männer nicht mit einem übermäßig komplizierten Satzbau zu konfrontieren.
Sondra sah unglaublich gelangweilt aus.
„Das ist aber schade. Kann nicht jemand anders diese Würstchen ausgeben? Du weißt, dass ich dich immer gerne bei mir habe.“
Oh ja, das weiß ich. Schließlich bekomme ich das jeden Tag zu spüren, dachte Sue. Das gute Frauchen war immer da und immer verfügbar. Zeit für sich allein? Die hatte sie schon lange nicht mehr gehabt.
„Du bist doch nicht allein, Terence Darling“, sagte Sondra und strich ihm über das Haar, woraufhin Paula aufseufzte und nochmals mit dem Kamm nachbesserte.
„Und Philipp? Soll der wieder ausbaden, dass seine Eltern nicht da sind? Du weißt doch, wie wieder getratscht wird. Du