Einen Verlängerten bitte. Elisa Herzog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisa Herzog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738021011
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die Hände in die Hüften. „Dann wundert mich nichts mehr.“ Sie machte eine Pause und zögerte, weiterzusprechen, tat es dann aber doch. „Wahrscheinlich war sie noch in Gedanken beim Musical ‚Der König der Löwen‘. Seit sie dort die Gazellen schminken darf, kleistert sie alles und jeden mit Terracottapuder zu.“

      Sues Kopf hämmerte. Sie betrachtete Terence, der schläfrig im Schminkstuhl saß und sich von Paula abpudern ließ. Es war, sie hatte nachgeschaut, das elfte Mal, dass Terence bei Sondra zu Gast war. Was waren sie bei der ersten Sendung aufgeregt gewesen! Drei Stunden zu früh waren sie erschienen, aus Angst, zu spät zu kommen. Wie hatten sie die prickelnde Atmosphäre genossen, den Duft der Schminke, die Kameras. Als die Sendung ein Erfolg wurde, schwebten sie im siebten Himmel. Dann gab es eine weitere Sendung. Und noch eine, und noch eine … Und jetzt herrschte nur noch Routine, zumindest für sie, die im Hintergrund agierte.

      In der Luft hing der penetrante Geruch von Puder. Sie glaubte zu ersticken und musste husten. Niemand achtete auf sie. Wahrscheinlich könnte ich hier tot umfallen, dachte sie, und keiner würde sich dafür interessieren. Fiona würde sich natürlich schnell ganz unauffällig ihre Schuhe unter den Nagel reißen. Sue krallte sich ihre Tasche und stand auf. „Ich bin mal kurz weg.“

      Zum Glück war niemand auf der Toilette, und mit einem tiefen, erleichterten Seufzen ließ Sue sich auf den Toilettensitz sinken. Sie stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und legte den Kopf in ihre Hände. Ich will nie wieder aufstehen. Sie stellte sich vor, wie Terence sie suchte, wie er sein Hündchen vermisste, das alle Termine für ihn machte, seine Muse (ha ha, schöner Spruch, aber schon lange nicht mehr wahr), die ihm alles, was ihn in seiner Arbeit beeinträchtigte, vom Leib hielt (und das war mehr, als man für möglich gehalten hätte).

      In der Stille ihrer Kabine spürte sie mehr als deutlich, wie müde sie war. Ich will hier nicht mehr raus. Da läutete das Handy und holte Sue aus ihrer Lethargie. Seufzend fischte sie es aus ihrer Tasche. Sie seufzte gleich noch einmal, als sie hörte, wer dran war. Melissa Brown-Harryman, die Vorsitzende des Elternbeirats von Philips Schule.

      „Oh mein Gott Sue!“, schrie sie völlig hysterisch. “Bin ich froh, dass ich dich erreiche!“

      „Was gibt’s denn?“, fragte sie träge.

      „Eine Katastrophe! Margret fällt aus, sie kann nicht kommen!“

      Diese Art Katastrophe war nicht von der Art, die Sue aus ihrer Apathie reißen konnte. Sie raffte sich lediglich dazu auf, sich etwas aufrechter hinzusetzen. „Wieso kann sie nicht?“

      „Margret hat kurzfristig einen Termin bei Home and Country für eine Home Story bekommen! Obwohl ich das nicht kommentieren möchte“, fügte sie mit leicht pikiertem Unterton hinzu. „Es hat etwas Vulgäres an sich.“

      Und mein Mann spricht im Fernsehen über schlappe Schwänze, dachte Sue. Wie vulgär findet Melissa Brown-Harryman wohl das? „Wo ist das Problem? Ich bin doch sowieso eingeteilt.“

      „Könntest du eine Stunde eher kommen?“, keuchte Melissa. „Wir haben niemanden für den Würstchenstand.“

      Sue riss gedankenverloren das Toilettenpapier in dünne Streifen.

      „Sue! Ich höre dich nicht! Bist du noch dran?“

      „Ja, ja“, murmelte Sue und überlegte, welche Origami-Figur man aus dem Papier falten könnte. „Würstchenstand. Okay. Wann muss ich da sein?“ Die frische Luft würde ihr sicher gut tun, und Terence kam mit Sondra wunderbar alleine zurecht.

      „Sue, du bist ein Schatz!“, jubilierte Melissa. „Also dann in einer Stunde. Ich zähle auf dich!“

      „Wie schön“, murmelte Sue und drückte Melissa weg.

      Ihr Blick fiel auf ihre Tasche. Das luxuriöse Leder schimmerte sanft im Neonlicht. Da drinnen waren sie, die Tabletten, die alles ein wenig leichter machen würden. Sie wusste, dass sie in letzter Zeit gefährlich viel von diesen Dingern genommen hatte. Aber dieses Absinken in die Müdigkeit konnte sie sich nicht leisten. Sue dachte an die Würstchen, an die Fernsehsendung. An die Abrechnung, die sie noch zu erledigen hatte, wahrscheinlich in einer Nachtschicht. An das Verlagsgespräch heute nach dem Schulfest, bei dem die große Lesereise von Terence besprochen werden musste. Was für ein Tag! Und das nach dieser Nacht. Sue streckte ihr Bein aus. Es zog unangenehm. Und dann war da noch am nächsten Tag die Geburtstagsfeier ihres Schwiegervaters auf dem Familienstammsitz. Sie dachte an die drei Kilo zu viel, die sie immer noch mit sich herumschleppte. Wie praktisch, dass dieses Aufputschzeug auch appetithemmend wirkte, zwei Kilo hatte sie schon abgenommen.

      Sie riss die Tasche an sich wie eine Ertrinkende den Rettungsring und ließ den Verschluss aufschnappen. Schön sah die Verpackung aus, pastellfarben, apricot und grün. Optimistisch, Freude versprechend. Den Beipackzettel legte sie gleich weg, da stand sowieso nur das drin, was sie jetzt nicht sehen wollte. Sie arbeitete sich zielstrebig zum Blisterstreifen vor. Nur blöd, dass sie zum Hinunterschlucken Wasser brauchte und ihre Flasche in der Maske vergessen hatte. Sie wäre so gerne einfach hier sitzen geblieben. Langsam wurde es hier richtig gemütlich. An sich nestelnd und zupfend wand sie sich hoch, ohne die Tabletten aus der Hand zu geben.

      Das war doch jetzt ganz einfach, dachte sie, als sie vor dem Waschbecken stand und eine Tablette geschluckt hatte. Alle machen das. Das ist keine Niederlage. Sie hob den Blick und betrachtete sich im Spiegel. Das hätte sie lieber nicht tun sollen, denn es erzeugte in ihr das dringende Bedürfnis, gleich noch einmal eine Tablette zu nehmen. Sie sah nach oben zur Beleuchtung. Diese Neonröhren. Die waren schuld. Von allein konnte niemand so beschissen aussehen wie sie gerade jetzt. Die Krone der Schöpfung – ha!

      Plötzlich wurde die Tür zum Gang schwungvoll geöffnet. Bitte lass es nicht Sondra oder Fiona sein, betete Sue. Ihr Stoßgebet hatte Erfolg, es war eine ihr unbekannte Frau in den Sechzigern, die aussah, als käme sie gerade vom Segeln. Blauweiß gestreiftes Bretonenshirt, weiße Hose, marineblauer Blazer, luftgetrocknete, grauschwarz melierte, knapp schulterlange Haare. Und ein unverschämt frischer, fast faltenfreier Teint, der einwandfrei verriet, dass die Dame Segeln nicht zu ihren Hobbys zählte.

      Nachdem sie Sue kurz zugenickt hatte, ließ die Frau kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. „Du liebe Güte, bin ich aufgeregt!“ Sie drehte den Wasserhahn zu und sah zu Sue. „Ich bin heute das erste Mal im Fernsehen! Ich, Polly Myers!“

      Sue lächelte.„Bei welcher Sendung treten Sie denn auf?“

      „No Limits“, antwortete Polly. Sie klopfte sich auf die Brust. „Mein Herz klopft wie wild.“

      Sue lächelte. „Ein bisschen Lampenfieber hat jeder, glauben Sie mir. Es wird bestimmt alles gut gehen.“

      Polly blickte skeptisch. „Arbeiten Sie hier, Mrs?““

      „Urquhart“, ergänzte Sue. „Nein, aber ich begleite meinen Mann, der ab und zu hier ist.“

      Polly hatte die Augen aufgerissen. „Urquhart? Dann ist Ihr Mann der Urquhart?“

      Sue nickte.

      Polly zog anerkennend ihre Augenbrauen hoch. „Dann sind Sie ja in besten Händen.“

      Sue schwieg.

      „Ach, wäre ich nur wie meine Patienten.“ Polly seufzte.

      „Wie sind die denn?“ Sue kämmte sich die Haare. Manuel war auch schon mal besser gewesen. Die Föhnfrisur war keine mehr und sah nur noch desaströs aus.

      „Dement. Die nehmen alles, wie es kommt und vergessen es sofort wieder. Das ist manchmal gar nicht so schlecht.“

      Dement? Was zum Teufel hatte eine Demenzärztin in einer Sexsendung zu suchen? Es ging zwar um Senioren, aber demente Senioren und S.., das wollte sie sich lieber nicht vorstellen.

      „Und Sie sind tatsächlich bei No Limits? Da geht es heute um Sex“, fragte Sue nach.

      „Es geht doch immer um Sex“, antwortete Polly lakonisch.

      Sie klang wie eine Inkarnation von Terence, der stets das