Von da an fuhren Greta und Daniel mit dem Motorrad in den Urlaub – nach Frankreich, Italien und Spanien. Über alle Berge. Lichte Panoramen und zerklüftete Gipfel waren die Hintergrundkulissen ihrer Reisen ins reine Glück. Sonnenlicht durchwobene Tage, gefüllt mit Gelächter, Strandspaziergängen und landestypischem Essen. In Italien von Mamma in der Küche zubereitet und von Figlio serviert, begleitet von gutem, manchmal auch schlechtem Wein. Das kam ganz auf den Hausgeschmack an, denn meistens war es Vino de la Casa.
Die Morgen begannen mit ineinander verwobenen Körpern. Die Abende endeten mit ineinander verwobenen Körpern. Selbst als sie schon zwei Jahre ein Paar waren. Begleitet wurde dies von Ewigkeitsschwüren, wie Greta sie sich vor Daniel niemals hätte vorstellen, geschweige denn hätte von sich geben können.
Daniel wollte Kinder mit ihr. Er gestand es Greta verlegen lachend bei einem Abendessen auf der liparischen Insel Salina. Sie waren inzwischen vier Jahre zusammen und beiden war feierlich zumute. Sie saßen auf der Terrasse ihres kleinen Hotels, tranken zu Pasta mit Tomaten und Kapern einen Nero d’Avola und sahen dem Stromboli beim Spucken zu. Ein magisches Spektakel. Greta war sich in diesem Moment bewusst, dass sie sich nie zuvor so lebendig gefühlt hatte. Nach Daniels Geständnis hatte sie sich auf seinen Schoß gesetzt, ihm beide Arme um den Hals gelegt und ihn sanft und lange auf den Mund geküsst. Es war ihr egal gewesen, was die anderen Gäste dachten.
„Ich wünsche mir eine kleine Greta“, sagte Daniel leise, als sie kurz aufhörte, ihn zu küssen.
„Aber einen kleinen Daniel bitte auch“, hatte Greta geflüstert.
Kurz darauf war Daniel mit seinem Motorrad verunglückt. Ein Auto hatte ihn übersehen und er war im hohen Bogen gegen eine Schallschutzmauer geschleudert worden.
Als Greta ihn im Krankenhaus besuchte, hatte ein Mann aus Verband in dem Bett vor ihr gelegen. Sie hatte beinahe kein Wort herausgebracht, weil er so fremd aussah. Nichts an dieser weißen Mumie erinnerte an Daniel. Nicht einmal seine Augen, da sie schwarz und blau und völlig verschwollen waren. Sein halbes Gesicht war bei dem Unfall zerquetscht worden. Man hatte ihn mühsam wieder zusammengeflickt. Der Aufprall hatte ihm mehrere Rippen gebrochen und eine Schulter ausgerenkt. Er hatte innere Verletzungen, unter anderem einen Milzriss.
Daniel hatte langsam ins Leben zurückgefunden. Die Ärzte hatten ihm ein neues Gesicht gebastelt. Nach ein paar Wochen hatte sich Greta an den neuen Daniel gewöhnt. Auch im Inneren hatte der Unfall Schaden angerichtet. Daniel war launisch mit Tendenz zum Zynismus, das war die größte Veränderung. Zu Greta war er weiterhin liebevoll gewesen, sorgte sich aber nun ständig, ob er sie noch glücklich machte. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich wieder unbelasteter begegnen und berühren konnten. Doch die Sorglosigkeit der ersten Zeit war verloren.
Die Ärzte hatten Daniel verboten, Alkohol zu trinken, weil der sich weder mit den Medikamenten vertrug, die er von nun an einnehmen musste, noch mit seinen lädierten Organen.
Motorrad fuhr Daniel weiter – und trank mehr Wein als zuvor. Er konnte nicht anders. Greta hatte sich dadurch bedroht gefühlt. Nicht sie als Greta, sondern sie als seine Freundin und Geliebte hatte das Damoklesschwert über ihm schweben sehen. Die Angst, ihn zu verlieren, hatte sie dünnhäutig werden lassen.
Noch immer träumten sie von einer gemeinsamen Zukunft. Davon, ins Ausland zu gehen, eine kleine Frühstückspension an einem Ort zu eröffnen, wo die Sonne schien, wo man am Meer sein konnte. Das hatte ihnen bis zum Schluss vorgeschwebt. Italien oder Lanzarote. Im ewigen Frühling. In Freiheit. Dort ihre Kinder aufwachsen zu sehen, die nie etwas anderes umgeben würde als pure Natur, das war es, was sich beide wünschten.
Mit nicht einmal vierzig Jahren war Daniel tot. Sie waren zusammen segeln auf einem See in Bayern. Daniel hatte an der Pinne gesessen, während Greta die Schoten festhielt. Sie war von ihnen beiden diejenige, die jetzt mehr Kraft besaß. Daniel hatte ihr „Klar zur Wende“ zugerufen und Greta sich bereitgemacht für das Manöver. Sie hatte gewartet, dass der Baum zur anderen Seite hinüberschwenkte. Doch plötzlich stand das Segel im Wind und flatterte vor sich hin. Sie wollte sich gerade scherzhaft bei Daniel über sein misslungenes Manöver auslassen, als sie ihn vornüber über der Pinne hängen sah. Sie ließ die Schoten los und stürzte zu ihm. Daniels Herz schlug noch. Fahrig bettete Greta ihn auf den Bootsboden, stellte seine Beine auf, weil sie das mal so gelernt zu haben glaubte, und rief schluchzend den Notarzt an. Dann versuchte sie mit zitternden Händen, das Boot wieder auf Kurs zu bringen. Dabei stolperte sie in ihrer Panik über Daniels Beine und stieß sich den Kopf am Baum. Benommen sackte sie neben Daniel auf den Boden und schluchzte, den Kopf auf seiner Brust, „Bleib bei mir. Bitte!“ Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass jede Minute zählte. Sie ging die einzelnen Schritte durch, indem sie laut mit sich selbst sprach. Plötzlich war alles von einer übernatürlichen Klarheit. Sie befestigte die Schoten der Fock so, dass sie sich nur noch auf das Großsegel konzentrieren musste. Pinne und Schoten hielt sie mit rechts. Mit der linken Hand streichelte sie immer wieder über Daniels Kopf zu ihren Füßen, der bald ganz nass war von ihren Tränen.
Im Nachhinein wusste Greta nicht, wie sie es geschafft hatte, das Boot in den Hafen zu bringen. Die Welt hatte hinter einem Schleier gelegen. Als sie anlandeten, hatte die Ambulanz bereits mit Blaulicht auf sie gewartet. Daniels Herz schlug noch. Doch auf dem Weg ins Krankenhaus blieb es stehen.
Greta hatte vor der Klinik gestanden. Sie hatte am ganzen Leib gezittert. Das Salz ihrer Tränen hatte alle Kraft aus ihr herausgewaschen. Die Beruhigungstabletten, die der Arzt ihr geben wollte, hatte sie abgelehnt. Sie hatte zu viel Schlimmes darüber gelesen. Sie konnte sich jedoch auch nicht vorstellen, alleine ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren. Sie rief Miriam an und bat sie, zu ihr nach Bayern zu kommen. Erst dann hatte sie Daniels Eltern benachrichtigt. Die Mutter war ans Telefon gegangen und hatte mit tränenerstickter Stimme nach ihrem Mann gerufen, bevor sie Greta wegdrückte.
Der Weg vom Krankenhaus zu Fuß zurück ins Hotel schien Greta voller unsichtbarer Hindernisse, um die sie herumstolperte. Endlich in ihrem Zimmer fiel sie schluchzend auf das Bett und in die Bodenlosigkeit. Hätte sie etwas tun können, um Daniel zu retten? War die Bootsfahrt zu anstrengend für ihn gewesen? Würde er noch leben, wenn sie an Land gewesen wären? Sie schneller an Land gekommen wären? Der Wind stärker geweht hätte? Sie nicht so umständlich, so ungeschickt wäre? Irgendwann war sie von den eigenen Gedanken so erschöpft gewesen, dass der Schlaf leichtes Spiel mit ihr hatte und sie in seine barmherzige Tiefe zog.
Als sie aufwachte, war es dunkel. Miriam saß neben ihr auf dem Bett, das Greta noch bis zum Morgen mit Daniel geteilt hatte. Sie strich ihr die von Tränensalz verklebten Haare aus dem feuchten geröteten Gesicht. „Es tut mir so leid“, sagte sie. Greta hatte gerade noch die Kraft gehabt, still zu nicken. Sie fühlte sich wie gelähmt.
Am nächsten Tag war Greta aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen, war mit Miriam hinuntergegangen in den Frühstücksraum und hatte nichts heruntergebracht außer einer Kanne grünen Tees.
„Du musst etwas essen“, hatte Miriam gesagt. Sie hatte für Greta ein Brötchen mit Butter und Honig geschmiert. Dann hatte sie es in mundgerechte Stücke zerteilt und ihr hingeschoben. Es war als blockierten die Tatsachen ihr die Speiseröhre. Als hätte sie schon einen großen Teller Wiener Schnitzel mit Pommes frites gegessen wie noch vor zwei Tagen gemeinsam mit Daniel. Ihre Wirbelsäule war zu schwach gewesen, ihren gedankenschweren Kopf zu halten. Er war nach vorne gekippt neben den Teller mit dem Honigbrötchen und riss die ganze Greta mit sich. Weinend ergab sie sich. Wieder strich Miriams Hand ihr über den Kopf. Doch die tröstliche Geste enthielt keinen Trost. Nie wieder würde sie Trost empfinden. Nie wieder würde sie sich glücklich schätzen, am Leben zu sein. Sie wollte nicht ohne Daniel auf der Welt sein. Sie wollte mit ihm gehen. Es war ihr egal, wohin.
Miriam half Greta, die Überführung des Leichnams nach Düsseldorf zu organisieren. Dann setzte sie sich an das Steuer von Gretas kleinem Wagen und fuhr sie zurück nach Hause. Sie schleppte ihr den Koffer die Treppe hinauf und schloss die Türe für sie auf.
Als Greta ihre Wohnung betrat, war sie des letzten Restes Hoffnung beraubt worden. Auch hier war kein Daniel mehr. Es war vorbei. Das Leben