Greta und das Wunder von Gent. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748564683
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hatte aber vom Genter Altar gehört – einem der wichtigsten Werke des späten Mittelalters. Sie hatte sich aber nie damit beschäftigt, weil das Mittelalter nicht zu ihren Lieblingsepochen gehörte. Es waren Zeiten, als Künstler noch in Werkstätten gearbeitet hatten und von hoher Stelle finanziert worden waren. Diese Art der Unterstützung hätte auch den meisten Künstlern in Gretas Umgebung gut getan. Kaum einer der Düsseldorfer Maler und Fotografen, die sie kannte, konnte von der Kunst leben.

      Zurück zu Hause, konnte Greta es kaum erwarten, die Briefe mit der eleganten, schwarzen Schrift nach dem Datum zu ordnen. Dabei stellte sie fest, dass der Brief, den sie gelesen hatte, nicht der Erste gewesen war. Es gab noch eine ganze Reihe von Briefen, die besagter Hugo an ihre Großtante verfasst hatte. Greta suchte sich den Brief mit dem frühesten Datum heraus und begann ihn zu lesen.

       Gent, 10. April 1933

       Hochverehrtes Fräulein Mia,

       es war mir ein großes Vergnügen, heute nach der Vorlesung mit Ihnen zu plaudern. Ihr Kunstverstand ist ganz bemerkenswert. Ich habe mich selten mit einem Menschen so austauschen können über das Leben Turners, die Werke der Präraffaeliten. Über John Ruskin und die gesamte Entourage.

       Ihr Esprit, ihr Charme haben mich ehrlich gesagt überwältigt. Verzeihen Sie daher die Kühnheit meiner Frage: Würden Sie wohl bald einen Kaffee mit mir trinken gehen und dabei unser Gespräch fortsetzen? Das würde mich sehr freuen. Lassen Sie mich wissen, ob und wann es Ihnen passt. In freundlicher Verehrung, Ihr Hugo Leuvens.

      Greta hatte sich mit ihrer Großtante selten über Kunst unterhalten, eher über Politik. Sie hatten sich gemeinsam Sorgen um die Welt gemacht. Oder sich gegenseitig an die Menschen erinnert, die sie verloren hatten. Greta hatte sich dabei wie eine von zwei einsamen Inseln gefühlt, die durch eine Brücke miteinander verbunden waren. Jetzt stellte sie überrascht fest, dass die andere Insel voller Geheimnisse steckte. Gespannt nahm sie sich den nächsten Brief vor.

       Gent, 12. April 1933

       Liebstes Fräulein Mia,

       so sei es denn der Sonntag, 16. April um 15 Uhr. Mir gefällt, dass sie zunächst den Genter Altar besichtigen wollen. Er zählt tatsächlich und natürlich auch zu meinen Lieblingswerken auf der Welt. Ich bin schon bis aufs Äußerste gespannt, welche klugen Gedanken zu diesem Wunderwerke Sie mir mitteilen werden.

       In freudiger Erwartung, Ihr ergebener Hugo Leuvens.

       Gent, 16. April 1933

       Mein liebes Mia-Kind,

       was haben Sie doch für eine blühende Fantasie! Sie haben in jede Ranke dieses Meisterwerkes mehr hineingelesen als ein gestandener Kunsthistoriker im gesamten „Lamm Gottes“ an Emblematik entdeckt hätte. Ich möchte sie jedoch bitten, ihre bezaubernd wirren Gedanken nicht jedem Dahergelaufenen mitzuteilen. Er könnte das missverstehen. Ich dagegen bin umso verwirrter und taumele wie trunken durch die Gegend, seit wir uns getrennt haben. Sie haben mich beschwipst und beglückt zu etwa gleichen Teilen. Ein Zustand, in dem ich mich möglichst lange befinden möchte. Ich fürchte jedoch, dass sie ihn bald werden auffrischen müssen. Bitte, lassen Sie mich nicht zu lange auf eine Fortsetzung unserer Begegnung warten!

       In Verehrung, Ihr Hugo Leuvens.

       Gent, 17. April 1933

       Mia, oh Mia,

       Sie haben mir etwas angetan mit diesem Blick. Von unten herauf, schelmisch, dieser Bengel-Anteil und dann wieder dieser Unschuldsengel, der ihn durch Ihre langen Wimpern wegklimpert und die große Sanftheit, die Ihrem Herzen innewohnt, durchdringen lässt. All diese stummen Versprechen ihrer Weiblichkeit, sie bringen mich um.

       Ich habe Gerüchte läuten hören, wonach Sie bereits einem anderen versprochen sind. Ist das wahr? Bitte sagen Sie mir, dass es nicht stimmt und dass ich noch hoffen darf!

       In banger Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich, Ihr Hugo Leuvens. (Um den Verstand gebracht, aber nicht ohne Verständnis.)

      Greta war so vertieft, dass sie fast vergessen hätte zu atmen.

      An dieser Stelle brauchte sie eine Pause. Zu sehr wühlten sie die Briefe auf. Schon lange war sie nicht mehr so berührt worden. Hinzu kam die Verwunderung über diese Liebelei ihrer Großtante oder als was auch immer sich die Beziehung ihrer Großtante zu diesem Hugo Leuvens während der weiteren Lektüre herausstellen würde. Greta wunderte sich, dass ihr die geliebte Großtante niemals von dem Mann erzählt hatte, der ihr so unverblümt und auf so gekonnt charmante Weise den Hof gemacht hatte.

      Sie war ziemlich sicher, dass ihre Großtante den Großonkel bereits Ende 1932 kennengelernt hatte. Von ihrer ersten Begegnung an der Universität in Bonn hatten beide häufig erzählt. Carl hatte dort Ingenieurswesen studiert. Doch er hielt sich oft in der geisteswissenschaftlichen Fakultät auf. Wegen der hübschen Frauen, wie er augenzwinkernd betonte. Carl hatte Mia in der Mensa angesprochen. Sie war ihm aufgefallen, weil sie während des Essens still in ein Buch vertieft gewesen war. „Wie eine Madonnenerscheinung“ hatte sie auf Carl gewirkt.

      Dass eine Frau studierte, war in ihrer Generation durchaus etwas Besonderes gewesen, hatte die Großtante nicht ohne Stolz erzählt. In jener Zeit wurde der Zollstock bei einer Frau vor allem bezüglich ihrer Fähigkeiten als Hausfrau und Mutter angelegt. Man maß sie darüber hinaus vielleicht noch an ihrer Schönheit. Mia hatte das Glück gehabt, dass ihr Vater die Auffassung vertrat, dass Bildung die einzige Währung sei, die keiner Inflation ausgesetzt war. Sie dankte es ihm, indem sie ziemlich ehrgeizig zur Sache ging. Sicher hatte dieser Ehrgeiz sie damals auch nach Gent gebracht.

      Hugo Leuvens. Greta gab den Namen bei Google ein und fand auf Wikipedia einen belgisch-deutschen Kunsthistoriker dieses Namens, der an der Genter Universität unterrichtet hatte und laut Wikipedia ein renommierter Experte für Turner gewesen sein musste, der viel publiziert hatte. Offensichtlich war das Schreibtalent von Mias Professor allerdings nicht auf wissenschaftliche Abhandlungen begrenzt gewesen. Seine Briefe lasen sich so spannend, dass Greta die Zeit aus den Augen verlor. Da war es einerlei, dass die Zeilen nicht an sie gerichtet waren, sie konnte nicht genug davon bekommen. Sie würde noch einen Brief lesen, bevor sie schlafen ging, danach musste es gut sein.

       Gent, 18. April 1933

       Fräulein Mia, liebes Fräulein,

       das gestrige Gespräch mit Ihnen hat mich gleichzeitig betrübt und beglückt. Dass sie bereits verlobt sind, kann mich nicht wundern. Sind Sie doch das reizendste Geschöpf, dessen ich jemals ansichtig wurde. Doch wie hat es mich gefreut, dass Sie mir nicht gleichgültig gegenüber stehen. Darf ich also hoffen, dass noch nicht alles verloren ist? Dass es die Chance gibt, dass Sie mich doch eines Tages erhören werden? Darf ich hoffen? Darf ich? Werde ich Sie sehen? Nicht nur in meiner Vorlesung? Auf einen Kaffee vielleicht? Bitte!

       In den Nächten tue ich kaum ein Auge zu. Der Gedanke an Sie hält mich wach. Tag und Nacht. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das sagt man allgemein und ich werde daran festhalten. Ich erwarte Ihre Notiz oder auch ein Wort im Vorübergehen.

       Ihr aufrichtig hoffender Hugo Leuvens.

      Greta konnte kaum noch die Augen offenhalten und befahl sich ins Bett zu gehen, wollte sie ihr Arbeitspensum am nächsten Tag auch nur halbwegs angemessen bewältigen. Sie schlief unruhig. Träumte seltsam. Ein Hochhaus in ihrer Heimatstadt Düsseldorf sollte einem Neubau weichen. Statt es zu sprengen, wurde es komplett auf ein Schiff gehoben und schipperte nun den Fluss entlang zum anderen Ufer, wo es anschließend stehen sollte. Der Anblick dieses schönen Gebäudes auf dem Schiff war kunstvoll. Viele Zuschauer verfolgten das Ereignis vom Ufer aus. Das Ganze wirkte jedoch kein bisschen wunderlich, sondern wie die perfekte Lösung.

      Am nächsten Abend las Greta weiter. Sie hatte es vor gespannter Vorfreude in der Redaktion kaum erwarten