Greta und das Wunder von Gent. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748564683
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mit französischem Akzent, ob Othello, wie die Bulldogge offenbar hieß, sie stören würde. Ohne Gretas Antwort abzuwarten, zog die junge Frau das Tier am Halsband zu sich herüber. Greta spürte über Kaffee und Kuchen noch eine ganze Weile dem Leib des Hundes nach. In ihrem Innern atemberaubende Einsamkeit, die sie schließlich zurück nach Hause und in die Verzweiflung trieb.

      Sie wollte auch einen Hund haben und täglich diese bedingungslose Zuneigung erleben. Aber sie konnte ihn schlecht mit in die Redaktion oder ins Theater nehmen. Ihr Leben ließ keinen Hund zu. Nicht einmal einen Hund.

      Wenige Wochen später zog dann Herr Schrödinger bei Greta ein. Rein äußerlich betrachtet war er ein perfektes Wesen.

      Ihr Bruder Nick hatte ihn dagelassen, als er in die USA ging. Nick hatte Herrn Schrödinger gar nicht erst gefragt, ob er Lust gehabt hätte, mit ins Ausland zu gehen. Er hatte seine Egyptian Mau einfach bei Greta abgegeben. Nick hatte auch Greta nicht gefragt, ob es ihr passte, seinen Kater aufzunehmen. Doch was mit verlassenen Lebewesen geschehen konnte, wusste sie nur zu gut. Daher hatte sie die Katze adoptiert, obwohl sie sich lieber einen Hund gekauft hätte.

      Herr Schrödinger ließ sich allerdings nicht so ohne Weiteres adoptieren und er hielt sich zweifellos für etwas Besonderes. Genau wie Nick, dachte Greta. Doch selbst ein arroganter Kater wie Schrödinger hatte seine Bedürfnisse. Greta trug die Verantwortung dafür, dass Schrödinger etwas zu fressen bekam, dass sein Kratzbaum in einer sonnigen Ecke stand und sein Klo gesäubert wurde und dass er genügend Auslauf auf dem Hof hatte, ohne Vögel zu behelligen oder sich mit den beiden Katzen ihres Nachbarn in die Wolle zu bekommen. Das brachte Normalität in Gretas Leben und ließ ihr ein neues Rückgrat wachsen.

      Doch zunächst hatte sie sich mit den tierischen Trophäen abfinden müssen, die ihr der elegante Vierbeiner ungefragt mitbrachte. Als Ehrerbietung, wie sie von ihrem Nachbarn erfuhr, bei dem Greta sich bitterlich über die Funde auf ihrer Türschwelle beklagte. Das Rotkehlchen hatte eine offene Brust, aus der alles Mögliche herausquoll. Der Feldmaus hatte Schrödinger rücksichtsvollerweise das Genick gebrochen. Ihr Kopf hing in unnatürlichem Winkel herab.

      Gretas Entsetzen rief beide Male den Nachbarn auf den Plan. Ihr Ekel hatte sich nur Stunden später in einem ausgeprägten Lippenherpes geäußert.

      Von wegen Ehrerbietung. „Du bist abscheulich“, schimpfte sie ihren neuen Mitbewohner aus. Doch dieser drehte in anmutiger Geste seinen Kopf zur Seite als suchte er die- oder denjenigen, an den Gretas Worte gerichtet sein mochten.

      Beim nächsten Mal ignorierte sie ihn in der Hoffnung, dass es ihn von weiteren Jagdausflügen abhalten müsste. Vielleicht hatten ihm drei Opfergaben genügt, vielleicht hatte Greta sich auch einfach keiner weiteren für würdig erwiesen. In jedem Fall beließ er es dabei.

      Kapitel 4

      Als Greta die Briefe, die sie bereits gelesen hatte, in die Kiste zurücklegte, fiel ihr Blick auf die Schulhefte, die ebenfalls darin aufbewahrt waren und denen sie bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Sie sah es als einen Bruch der Privatsphäre, das Tagebuch eines anderen Menschen zu lesen. Das galt für nahestehende Menschen in besonderer Weise. Sie hatte auch Daniels Tagebücher gefunden und seinen Eltern gegeben, ohne darin zu lesen. Bei der Großtante wäre es etwas anderes. Sie war am Ende eines langen erfüllten Lebens gegangen und hatte unzählige Fragezeichen hinterlassen. Bei Daniel hatte Greta sich selbst schützen wollen, weil sie nicht wusste, was ihr auf den Seiten begegnen würde. Sie hätte nicht gewusst, wie sie mit negativen Äußerungen über sie oder ihre Beziehung hätte umgehen sollen. Hätte ihn weder zur Rede stellen noch klärende Gespräche mit ihm führen können. Sie wollte alles in Erinnerung behalten, wie es war.

      Von ihrer Großtante brauchte Greta dagegen Antworten. Daher siegte in diesem Fall die Neugierde – eine unter Journalisten weit verbreitete Berufskrankheit. Greta nahm das oberste Heft zur Hand. Der erste Eintrag war von 1930. Sie suchte nach einem Heft, das die Tante möglicherweise 1933 geschrieben hatte, und fand es zuunterst. Es war ein blaues Heft, liniert, wie sie es von französischen Schulheften kannte. Auf dem Einband stand „Gent 1933/34“. Gretas Herz klopfte schneller, als sie das Heft aufschlug.

       Gent, 8. April 1933

       Den Eltern ist es schwer gefallen, mich in solch unruhigen Zeiten ziehen zu lassen. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Sie sehen Bildung jedoch als oberste Priorität im Leben und sind erfreut, dass ich diese Einstellung teile. Und sie haben doch noch Lisabeth! Die Gute. Sie wird sie auf andere Gedanken bringen. Sie gebärdet sich wie ein rechter Wildfang. Alle Hände voll zu tun für die Lieben.

       Carl war beinahe in Tränen, dass ich, kaum haben wir uns gefunden, schon in die Ferne gehe. Wie albern. So fern ist es doch gar nicht und sicher werde ich viel lernen. Dann wird auch er an meinem Wissen seine Freude haben. Zumal es uns sicher auch ganz gut tun wird zu sehen, was wir wirklich aneinander haben. Denn kann man das nicht häufig erst aus der Distanz ermessen, wenn man sich wie von außen betrachtet? All die lieben Dinge werden uns aus der Ferne größer erscheinen, wenn sie uns wirklich lieb sind. Alles andere wird sich in Luft auflösen.

       Gent, 10. April 1933

       Nun bin ich also in Gent, dieser freundlichen kleinen Stadt. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ganz auf mich gestellt. So gerne möchte ich einen guten Eindruck hinterlassen. Wie wichtig war daher auch mein erster Tag an der Universität zu Gent. Den Hörsaal bevölkerte bereits zu früher Stunde eine große Anzahl Menschen – junge wie alte. Es summte und brummte eifrig wie in einem Bienenstock.

       Dann schritt der Herr Professor ans Pult – auf seine Bühne sollte ich wohl besser sagen. Sein Auftreten wirkte wie der kühne Auftritt eines Hauptdarstellers. Es war deutlich erkennbar, dass er dafür geschaffen ist, Menschen in seinen Bann zu ziehen und ihnen die Liebe zur Kunst zu vermitteln. Hugo Leuvens ist ganz und gar bemerkenswert. Sein Gestus, seine Diktion – er unterrichtet auf Französisch. Welch’ großes Glück, dass ich solch sublime Materie in meiner Lieblingssprache aufnehmen darf!

       Seine schwarzen Locken rahmen sein wohlgeratenes Gesicht. Er mag um die fünfunddreißig Jahre alt sein. Er spricht von J.M.W. Turner wie kein Zweiter. Erzählt Anekdoten, wie dieser sich bereits als kleiner Junge in den Sommerferien an den Sonnenuntergängen weidete. Seine Familie reiste Jahr für Jahr nach Margate, einen Ort, der gerühmt wird für seine Sonnenuntergänge. Leuvens berichtete uns davon, wie Turner in späteren Jahren dorthin zurückkehrte – nun als Maler. Mit Pinsel und Palette bewaffnet, ergötzte er sich an den changierenden Farben des Himmels und des Meeres. Unser Professor erzählte uns das pikante Detail, dass Turner eine leidenschaftliche Affäre mit seiner „Landlady“, Mrs. Booth, gepflegt haben soll. Leuvens erzählte jedoch auch von den High Teas, die Turner mit John Ruskin genoss, dem Sherry-Erben, dessen Herangehensweise an die Kunst so ganz anders ist als die aller anderen Kritiker.

       Nach der Vorlesung musste ich meiner Begeisterung über seine Ausführungen Ausdruck geben. Daher ging ich zu Herrn Professor Leuvens und bedankte mich bei ihm für seinen vortrefflichen Vortrag. Er freute sich sichtlich und wir kamen ins Gespräch. Er fragte freundlich nach, woher ich komme, und war angetan, dass ich trotz vieler guter Universitäten in Deutschland die Genter Fakultät gewählt habe. Er spricht überdies fließend Deutsch und so wechselten wir vom Französischen ins Deutsche.

       11. April 1933

       Ich habe einen Brief erhalten – von meinem Herrn Professor. Ich dachte, mein Herz bliebe stehen, als ich ihn öffnete. Sein Inhalt hat mich, ehrlich gesagt, erröten lassen vor Freude. Er schreibt, das Gespräch mit mir habe ihm gefallen und er wolle es fortsetzen. Eine höchst aufregende Gelegenheit, die ich mir selbstverständlich nicht entgehen lassen werde.

       16. April 1933

       Ich war aufgeregt, wie ich es üblicherweise nicht von mir kenne. Aber wen wundert das? Professor Leuvens hat eine hervorragende Reputation und ist ein bis nach Deutschland bekannter und geschätzter Kunsthistoriker. Ich bin mir also der Ehre durchaus bewusst,