Greta und das Wunder von Gent. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748564683
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dieser Menschen, die davon profitieren, dass sie Firmen an die Börse bringen. Darin war er scheinbar sehr gut. Für andere Dinge, vor allem andere Menschen, nahm er sich kaum noch Zeit.

      Gleich am nächsten Morgen würde Greta zur Beerdigung ins Bergische Land fahren. Dort hatte die Großtante mit dem Großonkel gelebt, bis zu dessen Tod.

      Greta delegierte die Aufgaben der nächsten Tage an verschiedene freie Mitarbeiter, strickte mit heißer Nadel drei Artikel für die Wochenendausgabe, die sie außerdem soweit vorplante wie möglich, und verließ erst spät am Abend die Redaktion. Zu Hause kochte sie sich ein schnelles Pasta-Gericht, packte ihren Koffer und las noch ein paar Seiten in Priscilla von Nicolas Shakespeare, um sich etwas abzulenken und um herunterzukommen – ein Buch, das sie Tante Mia hatte ausleihen wollen. Früh fielen ihr die Augen zu.

      Die Trauerfeier war spärlich besucht. Gretas Herz hatte zunächst schneller geklopft, als sie auf dem Weg dorthin das gelbe Ortsschild erblickte. Doch dann hatte die Trauer über den Tod der geliebten Großtante sie überwältigt. Greta hatte sich nicht einmal richtig von ihr verabschiedet. Wer so alt wurde wie Mia, nahm sich nicht unbedingt die Zeit, um Adieu zu sagen. Es hatte jeden Tag so weit sein können. Und doch kam es plötzlich.

      In der kleinen Kirche saßen einige Gemeindemitglieder und ein paar ältere Frauen. Greta vermutete, dass sie Bekannte ihrer Großtante waren. Beide Pflegerinnen waren gekommen, die die Großtante in den letzten zehn Jahren ihres Lebens begleitet hatten und ihr sehr gewogen gewesen waren. Das wurde Greta noch einmal bewusst, als sie ihr nach dem Gottesdienst ihr Beileid aussprachen.

      Nach der Urnenbeisetzung kam eine ältere Dame in einem eleganten schwarzen Kostüm und mit einem breitkrempigen Hut auf Greta zu. Der Hut war so groß, dass er einen Schatten auf ihre obere Gesichtshälfte warf. Dennoch kam Greta die Frau irgendwie bekannt vor. Vielleicht waren sie sich auf einem der vielen Geburtstage der Großtante begegnet. Greta fühlte sich von ihrem Schmerz wie gedämpft, ihre Gedanken waren zu langsam, um eine Fährte aufzunehmen. Die Dame sagte kein Wort. Sie drückte Gretas Hand und schaute sie aus dunklen Augen einen Moment länger an, als Greta lieb war. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und sie wandte sich ab. Als sie sich wieder umdrehte, bereit, weitere Hände zu schütteln, war die Frau verschwunden.

      Nick war nicht gekommen. Aber damit hatte Greta auch nicht gerechnet.

      Es war ihr unheimlich, in der Wohnung der Großtante zu übernachten. Sie fürchtete sich vor ihren Emotionen. Also nahm sie sich ein Zimmer in einer kleinen Frühstückspension, die von einer netten älteren Frau geführt wurde, bei deren Anblick Greta beinahe wieder in Tränen ausgebrochen wäre, weil sie die gleichen silbergrauen Fönwellen hatte wie die Großtante.

      Sie fragte sich zum wiederholten Male, wie viel Trauer ein einzelner Mensch ertragen konnte, bevor die Seele zerkratzt war.

      Drei Tage hatte sich Greta freigeschaufelt, um Tante Mias Wohnung auszuräumen und zu entscheiden, welche der zurückgelassenen Dinge sie behalten und was sie abgeben würde. Sie hatte alles geerbt, denn zu Nick hatte die Großtante nie eine Beziehung aufbauen können.

      Im Kühlschrank fand Greta noch einen angebrochenen Joghurt, eine Schlangengurke und ein paar Tomaten. Doch sie hatte keinen Appetit und konnte sich ohnehin nicht vorstellen, auch nur einen Bissen davon herunterzubekommen. Sie warf alles mit schlechtem Gewissen in den Müll.

      Sie hatte Umzugskartons mitgebracht und begann sogleich, die Schränke auszuräumen.

      Die Kleider der Großtante knipsten bei Greta eine Bildergalerie von Erinnerungen an. Das weiße Seidenkleid mit den blauen Ankern hatte Tante Mia häufig getragen, wenn sie Greta ein feines Hühnerfrikassee mit Reis und Apfelkompott zum sonntäglichen Mittagessen aufgetischt hatte. Greta mochte diese altmodischen Gerichte. Sie schmeckten nach Kindheit. Auch ihre Großmutter hatte köstlich gekocht, wenn sie einmal Zeit dafür fand.

      Das rotweißblau-gestreifte Seidenkleid erinnerte Greta dagegen eher an die Nachmittagskaffees bei der Großtante mit dem köstlichen Kirschkuchen. Die Kirschen waren in dem luftigen Rührteig versunken, wie bei einer klassisch französischen Clafoutis. Obwohl Greta das Rezept schon lange zu Hause hatte, bekam sie den Kuchen niemals so saftig und locker hin wie ihre Großtante.

      Sie dachte an das hübsche Gesicht der alten Frau. Es blieb für Greta unfassbar, dass ein Mensch einfach weg war. Unerreichbar. Von jetzt auf gleich. Nur ein Häuflein Asche war übrig geblieben und ungezählte Augenblicke, die sie geteilt hatten.

      Es war an der Zeit gewesen, ihre Großtante gehen zu lassen. Wie oft hatte sie fast verzweifelt gesagt: „Ich glaube, der liebe Gott hat mich vergessen!“ Doch für Greta war die Großtante der letzte Rest Familie gewesen. Da war es schwierig, loszulassen.

      Das Ausräumen der Wohnung half ein wenig. Mit jedem Schrank, den Greta leerte, mit jedem Karton, den sie füllte, hatte sie das Gefühl, Mias Tod mehr zu akzeptieren.

      Greta förderte tütenweise Seidenstrümpfe zutage. Schmuck, das meiste davon Modeschmuck, und jede Menge Hüte und Mützen. Das alles würde sie behalten. Eine Kiste mit alten Fotos ebenso. Viele waren bei der Hochzeit der Großtante mit dem Großonkel entstanden. Oder in den Ferien. Beim Wandern. Beim Skifahren. Beim Segeln. Bei Essenseinladungen.

      Plötzlich hielt Greta ein Foto von sich selbst in der Hand. Es zeigte sie als vielleicht Siebenjährige, noch mit langem Haar und endlosen Beinen vor der Sandburg, die der Vater und Nick rund um ihren Strandkorb gebaut hatten. Zum Schutz vor Gott weiß was. Sie hatten sie aufwändig verziert mit Muscheln und anderem Strandgut. Greta hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Ein örtlicher Fotograf hatte das Bild aufgenommen und der Vater hatte es im Fotogeschäft des Ferienorts gekauft und der Großtante als Souvenir mitgebracht. Greta erinnerte sich, dass der Fotograf gesagt hatte: „Die wird mal Mannequin. Mit solchen Beinen!“ Der Vater hatte ihr das erzählt und Greta hatte gefragt, was das denn sei – ein Mannequin – und sich gefreut, als der Vater es ihr erklärt hatte.

      Greta dachte an ihre Eltern, die nie viel Zeit für sie gehabt hatten. Sie hatte manchmal den Verdacht gehabt, dass sie ihnen vielleicht einfach passiert waren. Dass Nick und sie diese große Liebesgeschichte mit ihrem Auftauchen möglicherweise sogar gestört hatten.

      Wenn Greta sich auch nicht erinnern konnte, dass die Mutter ihnen jemals große Aufmerksamkeit geschenkt hätte, Nick hatte sie auf ihre Art stets vergöttert.

      Das hatte es für Greta nicht einfacher gemacht.

      Noch dazu war Nick im Gegensatz zu ihr gut in der Schule gewesen, obwohl er jeden Nachmittag mit seinen Freunden im Wilden Westen unterwegs gewesen war – dem Dickicht auf dem Grundstück gegenüber. Greta hatte währenddessen lesend oder Kassette hörend in ihrem Zimmer gehockt.

      Abends verarztete die Mutter Nicks Schrammen und Schürfwunden und strich ihm dabei auch schon mal, wie zufällig, über das wirbelige Blondhaar.

      Greta hatte solcherart Wunden nie vorzuweisen gehabt. Lesend oder lauschend auf dem Bett verletzte man sich nicht. Sie hatte Nick bewundert, während sie für ihn eigentlich nicht existierte. Das war wohl auch den fünf Jahren Altersunterschied geschuldet. Greta hatte sich jemanden gewünscht, der ihr ähnlich war, mit dem sie sich auf Augenhöhe hätte austauschen können. Das gelang ihr erst auf dem Gymnasium. Bis dahin hatte sie sich in eine Parallelwelt geflüchtet aus Büchern und Filmen. Das Leben, das sie darin fand, war spannender gewesen als alles, was ihr widerfuhr. Es hatte aber auch eine gewisse Distanz geschaffen zwischen ihr und der Wirklichkeit.

      Als Greta weiter in der Fotokiste grub, fand sie auch Bilder, die ihren Vater als kleinen Jungen zeigten. Er sah genauso aus wie Nick als Kind. Wirbeliges helles Haar, große braune Augen.

      Auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie hielt die Großtante ihn als Baby im Arm. Auf der Tapete hinter ihnen rankten sich Rosen, die sich mit Mias langen Haaren verbanden. Sie hatte ihre Wange gegen seine geschmiegt, mit geschlossenen Augen, versonnen lächelnd. Der Vater machte eine Schnute.

      Die Großtante hatte sich oft um ihn gekümmert. Gretas Großvater war ein erfolgreicher Fotograf gewesen, er hatte überall auf der Welt gearbeitet. Die Großmutter hatte ihn die meiste Zeit begleitet und ihm assistiert.