Greta und das Wunder von Gent. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748564683
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gegangen. Was habe ich diesem gestandenen Mann schon zu sagen? Sicher, ich habe meine Reifeprüfung in Kunst abgelegt und in Bonn das erste Semester absolviert. Aber was bedeutet das schon, misst man es am Wissen eines renommierten Professors?

       All diese Gedanken waren müßig, wie sich alsbald herausstellte. Herr Professor Leuvens wirkte beinahe ebenso aufgeregt wie ich. Wenn es um Menschliches geht – so viel weiß auch ich schon –, hilft einem auch die hohe Wissenschaft nicht wirklich weiter. Die Blicke, mit denen er mich betrachtete, erzählten ohnehin eine andere Geschichte als sein Mund.

       Wir sprachen weiter über Turner und Ruskin. Ich erzählte ihm auch von meiner großen Schwäche für die Präraffaeliten. Wie schön, wenn bildende Kunst und Literatur einander befruchteten und Neues hervorbrächten! Ich erzählte ihm von meinem Plan, mir für meine Abschlussprüfung eine Figur aus der Literaturgeschichte zu wählen und ihre Rezeption in der bildenden Kunst zu untersuchen. Als Beispiel erwähnte ich John Everett Millais Ophelia, die es mir in besonderem Maße angetan hat. Sie ist und bleibt mein Lieblingsbild und war bereits Gegenstand der Kunstarbeit im Rahmen meiner Reifeprüfung. Auch konnte ich im Gespräch nicht meine Faszination für Millais selbst verhehlen, der zu einem späteren Zeitpunkt die von Ruskin jahrelang schmählich behandelte Gattin, Effie, ehelichte.

       Professor Leuvens wiederum erzählte daraufhin, dass Millais bei den Künstlern seiner Zeit nur „the child“ genannt worden war. Er wurde mit elf Jahren als jüngstes Mitglied aller Zeiten in die Royal Academy of Arts aufgenommen. Eine hübsche Geschichte, wie ich bemerkte.

       Dann kamen wir auf den Genter Altar zu sprechen und ich sagte Herrn Professor Leuvens, dass er von Rechts wegen den Deutschen gehören würde. Er sah mich belustigt und verwundert zugleich an. Ich erinnerte ihn daran, dass der Wandelaltar lange Zeit im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin zu bewundern gewesen war. Es heißt, König Friedrich Wilhelm III. habe ihn 1821 dem englischen Sammler Edward Solly abgekauft – für vierhunderttausend Francs. Der hatte das wertvolle Stück zuvor von einem Brüsseler Kunsthändler erworben, der es angeblich für dreitausend Gulden vom Generalvikar der Diözese Gent bekam. Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland es den Belgiern zurückgeben. So wollte es der Versailler Vertrag völlig zu Unrecht. Denn Kunst darf überhaupt nicht für Reparationszahlungen aufgewendet werden. Während ich es jetzt hier niederschreibe, überkommt mich erneut der heiße Zorn. Auch in unserem Gespräch erregte ich mich über diese Ungerechtigkeit und bezeichnete den Genter Altar als deutsches Eigentum, rechtmäßig erworben, ungerechtfertigt entwendet. Oh, ich glaube, meine Augen funkelten. Den Herrn Professor zumindest überkam ein Lachanfall, als er mich so sah. Er sagte belustigt und ein wenig von oben herab: „Was haben sie doch für Planetenaugen, Mia. Ich kann jede Wolke in ihrer Himmelsfarbe erkennen, so vielschichtig ist das Blau.“ Da war ich ein Weilchen still, so berührten mich seine Worte. Wer kann es mir verdenken? Dann dachte ich rasch an meinen Carl und es wurde ganz friedvoll in mir.

       Es ist ja auch einerlei, wo der Altar nun ist. Ich kann ihn mir jeden Tag ansehen, denn ich bin in Gent. Ich muss nur in die Kirche gehen. St. Bavo heißt sie. Wie wunderbar ist dieses aufwändige Werk! Am meisten hat es mir der Kristallstab von Gottvater angetan. So greifbar ist das durchscheinende Material, so realistisch dargestellt, dass man es berühren möchte, über den gläsernen Schaft streifen. Ich glaube zu wissen, wie es sich anfühlt. Mein Professor jedenfalls ermutigt mich, statt über die Präraffaeliten eine Abschlussarbeit über den Genter Altar anzustreben, genährt von meiner Leidenschaft für dieses Werk. So begründet er seine Empfehlung.

      An dieser Stelle machte Greta eine Pause. Sie wusste, dass ihre Großtante als eine der ersten Frauen nach dem Krieg eine Dissertation in Kunstgeschichte geschrieben hatte. Aber je mehr sie in dem Tagebüchlein las, desto drängender wurden ihre Fragen. Wie begeistert Mia über die Genter Zeit schrieb und wie wenig sie ihr davon erzählt hatte. Nicht einmal über die kunsthistorische Seite dieser Erfahrung hatte sie mit Greta gesprochen, die sich als Kulturredakteurin doch ebenfalls viel mit bildender Kunst beschäftigte. Gerade die Präraffaeliten berührten sie doch auch. Hatte sie ihre eigene Bedeutung für die Großtante falsch eingeschätzt? Aber nein. Sie wusste, dass sie ihr viel bedeutet hatte. Doch irgendwie fühlte sie sich in diesem Moment von ihr übergangen. Von dem letzten Menschen, der ihr wirklich Familie war. Greta spürte Trotz in sich aufsteigen. Sie würde die alte Geschichte für den Rest des Tages ruhen lassen. Schließlich hatte sie auch noch ein eigenes Leben.

      Als Greta sich der Wohnungstür näherte, hob Herr Schrödinger den Kopf. Er lag aufgerollt im Flur in unmittelbarer Heizungsnähe. Kurz musterte er sie in seiner unnachahmlich hochnäsigen Art aus stachelbeergrünen Augen. Als sie ihren geblümten Regenmantel anzog und in ihre Gummistiefel schlüpfte, sprang er auf und lief mit geschmeidigen Bewegungen in entgegengesetzter Richtung davon. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand er im Wohnzimmer. Seine Schönheit verblüffte Greta stets aufs Neue. Seine Gleichgültigkeit versetzte ihr dagegen einen leichten Stich. Wie sehr er in dieser Hinsicht Nick ähnelte! Sie schubste die aufkommende Verstimmung in eine Ecke, und öffnete die Wohnungstür.

      Kapitel 5

      Greta mochte ihre Stadt. Das Leben in Düsseldorf war von jeher bunt gewesen. Selbst Napoleon hatte vorbeigeschaut – ihm wurde daraufhin eine Straße gewidmet. Die Kaiserstraße war keine Schönheit, sollte aber eines Tages in einem Tunnel verschwinden und über ihr würde es Grün werden. So wollte es die Stadtplanung der Zukunft, was ganz in Gretas Sinne war. Sie hatte schon immer einen Bogen um die großen Straßen ihrer Stadt gemacht.

      Viele internationale Unternehmen brachten heute internationales Publikum in die Büros, in die Geschäfte und bestimmten das Treiben in den Straßen.

      Kaum irgendwo in Deutschland war das Beschaffen internationaler Lebensmittel so problemlos wie in Düsseldorf. Nirgendwo in Deutschland schmeckten Udon-Suppe und Sushi so fein wie hier, denn es gab in der ganzen Republik nur diese eine Japantown. Das erste japanische Restaurant hatte schon 1963 eröffnet, lange vor Gretas Geburt, ein Jahr später kam der Japanische Club dazu. Dabei war die japanische Gemeinde nur die siebtgrößte ausländische Community der Landeshauptstadt. Greta gefiel, dass andere Kulturen ihre Stadt prägten.

      Sie bemerkte, wie sie die Eindrücke um sich aufsaugte. Es tat gut, sich wieder dem Hier und Jetzt zu öffnen. Das Lesen der Briefe hatte sie der Welt um sie herum merklich entrückt.

      Sie wich einem Schauer aus, indem sie ein Stück mit dem Bus fuhr. Ein Mann stellte sich neben sie. Sein Gesicht erinnerte an das von Benedict Cumberbatch. Nicht Gretas Typ, aber ein hervorragender Schauspieler, wie sie fand.

      Der Mann mit dem Gesicht wie Cumberbatch trug fangograue Kleidung – Jacke wie Hose. In der linken Hand hielt er senkrecht ein Stück Holz wie einen Spaltkeil. Er hielt es sehr fest. Wie fest, erkannte Greta an seinen bleichen Fingerknöcheln. Sie fühlte sich beinahe bedroht von diesem hölzernen Dolch. In einer Kurve geriet der Mann ein wenig ins Wanken, was er gekonnt ausbalancierte. Die Art, wie er das Holzstück hielt, änderte sich dabei keinen Deut. Gretas Blick und der einer Muslimin ihr gegenüber trafen sich und sie tauschten ein verschwörerisches Lächeln.

      An der nächsten Station stieg Greta aus. Es hatte aufgehört zu regnen. Sie folgte einem plötzlichen Kaffeedurst Richtung Rhein, wo sie sich in ein Café am Ufer setzte. Es gehörte zu einem Ausstellungsraum, der in einem Teil des stillgelegten ehemaligen Rheinufertunnels lag. Von dort hatte man einen schönen Blick auf den ewigen Strom, der durch ein recht trockenes Frühjahr sehr schmal geworden war und sich erst allmählich durch einen unangenehm nassen April wieder füllte.

      Am Fenster saß eine Fliege. Sie lief über das Glas. Stieß sie an die eine Rahmengrenze, lief sie zur anderen und drehte wieder um. Doch nie erklomm sie das Hindernis. Es schien sich wie eine unüberwindliche Mauer vor ihr aufzubauen. Sie hätte nur ihre Flügel ausbreiten brauchen, um davonzufliegen. Warum nur tat sie es nicht?, fragte sich Greta. Manchmal drehte sie sich auch in der Mitte des Fensters um sich selbst. Die Freiheit von allem war so greifbar und schien doch unerreichbar.

      Als Greta später in den Supermarkt ging, belauschte sie unfreiwillig folgende Szene: Sie, in den