Gent, 19. April 1933
Zauberhafte Mia,
danke für den wunderbaren Nachmittag, den Du mir geschenkt hast. Ich spüre noch Deine Lippen, wie sie sich den meinen öffnen. Nie hat mich eine Frau so beglückt wie Du. Mit nichts weiter als einem Kuss. Doch dieser Kuss hat mir so viel gesagt. Er hat mir verraten, wie es wirklich um Dein Herz bestellt ist. Danke.
Mit klopfendem Herzen zu Papier gebracht von Hugo.
Gent, 28. April 1933
Liebstes Mia-Kind,
ich bin kein junger Mann mehr. Natürlich kann Dein Carl Dir in den Dingen der Liebe viel mehr Gutes tun. Auch wird er Dir zweifellos ein Leben in wirtschaftlichem Wohlstand bieten. Doch unterschätze nicht den Wert meiner Zuneigung. Mein Herz ist erprobt und ich weiß, wie das Klopfen zu deuten ist, das es in diesen Tagen unaufhörlich beschleunigt. Du bist gewiss nicht die erste Frau in meinem Leben, aber ich wünsche mir so sehr, Du könntest die Letzte und einzig Wahre sein. Ich bin alt genug, um nicht mehr zu fürchten, ich könnte etwas verpassen, wenn ich mich der einen verspreche. Ich kann warten. Das möchte ich Dir gerne beweisen. Solltest Du Dich am Ende für mich entscheiden, wird das Warten auch nicht umsonst gewesen sein.
Bitte, nimm Dir die Zeit, die Du brauchst, um klar zu sehen, wem Dein Herz gehört. Ich werde Dich nicht drängen. Aber bitte deute es nicht als Gleichgültigkeit, wenn ich Dich lasse. Jeder Tag, der verstreicht, ohne mir die Gewissheit Deiner Liebe zu schenken, ist vergeudet.
Geduldig in der Ungeduld, auf immer Dein Hugo.
Gent, 14. Mai 1933
Mia, Du süße Zarte,
wie kann ich das Glück in Worte fassen, das Du mir bereitet hast? Ich spüre noch die Sanftheit Deiner Haut an meiner. Deine Hände an meinem Leib. Dein Drängen und dann wieder Deine Zurückhaltung. Du hast all mein Sehnen in dieser Nacht erfüllt. Egal wie Du Dich entscheiden wirst, diese Momente wird uns keiner nehmen.
Ewig, Dein Hugo.
Ihre Großtante als Objekt der Begierde – diese Vorstellung war Greta fremd. Sie hatte Mia, seit sie denken konnte, als ältere Frau und als dritte Großmutter wahrgenommen. Mütterlich ja, aber nie als Geliebte. Nicht einmal an der Seite von Carl war es Greta in den Sinn gekommen, sie als Frau zu betrachten. Ihre ätherische Schönheit kannte Greta nur von verblichenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen und aus Erzählungen. Dass noch dazu ein anderer Mann als Onkel Carl ihr so nahe gekommen war, brachte das Bild, das Greta von der Großtante hatte, arg ins Wanken. Es überraschte sie, dass es ein derartiges Abenteuer gegeben hatte in dem nach außen hin so geordneten Leben, das die Großtante geführt hatte. Warum hatte Tante Mia niemals von Hugo erzählt? Trotz der innigen Nähe, die sie verbunden hatte?
Leider konnte sie ihre Großtante nicht mehr fragen.
Niemand war mehr da, um die Dinge zurechtzurücken.
Hätte sie doch bloß mit ihrem Vater darüber sprechen können. Wohl niemand, außer ihr, hatte Tante Mia so nahe gestanden wie er. Doch er hatte nie etwas in der Richtung angedeutet. Er musste es doch gewusst haben. So viele Geheimnisse hatten sie mit ins Grab genommen.
Schon zwölf Jahre war ihr Vater jetzt tot. Greta erinnerte sich genau an den Tag, an dem er ihr von seiner Krankheit erzählt hatte. Sie war längst erwachsen gewesen. Dennoch war es ihr vorgekommen, als wäre erst in diesem Moment ihre Kindheit schlagartig zu Ende gewesen. Ihr sonst so lebensfroher Vater war bleich gewesen und ruhig.
„Tut mir leid, dass ich euch solche Scherereien mache“, hatte er gesagt und sich an einem Lächeln versucht. Er hatte Greta gebeten, für ihre Mutter da zu sein. Dass Nick, wie meist, nicht da war, hatten die Eltern bis zu diesem Zeitpunkt stets klaglos akzeptiert. Schließlich war er erfolgreich in seinem Beruf als Venture Capitalist. Das bedurfte vieler Opfer im Privatleben. Seine Abwesenheit war Mutter und Vater ein Indiz dafür, wie unentbehrlich er seinem Arbeitgeber war und dass er es einmal weit bringen würde. Sie hatten nie gesagt im „Gegensatz zu dir“. Doch genau das hörte Greta jedes Mal heraus.
Die Eltern hatten die nächste Zeit viel auf Reisen verbracht, um Abschied voneinander zu nehmen.
Ein halbes Jahr später war ihr Vater gestorben.
Auch Nick war zur Beerdigung gekommen. Greta hatte nicht aufhören können zu weinen. Nicks Gesicht hatte keinerlei Gefühlsregung gezeigt. Die wenigen Worte, die er an diesem Tag gesprochen hatte, genauso wenig.
Er hatte seine Kiefer aufeinandergepresst. Seine Hände waren die meiste Zeit zu Fäusten geballt gewesen.
Tante Mia war danach Gretas Hafen geworden. Der Tod ihres Neffen hatte die alte Frau tief betrübt. Doch sie ließ sich das kaum je anmerken. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Greta aufzufangen. Als Erstes hatte sie ihre Großnichte herzlich in den Arm genommen und die viel größere Greta gewiegt wie ein Baby. In Greta hatte sich für den kurzen Moment, den diese Umarmung gedauert hatte, der Trauerflor leicht gelüftet. Ebenso wie an manchem Wochenende, an dem die Großtante sie nun bekocht hatte. Sie hatte Greta ihre schaumige Orangencreme zum Nachtisch bereitet, die auf der Zunge prickelte durch den Zitronensaft, der hineinkam. Oder ihren feinen Kirschkuchen gebacken. Das Essen hatte Greta – abgesehen davon, dass es köstlich gewesen war – ganz nebenbei mit Geborgenheit versorgt.
Greta und Tante Mia hatten sich über Literatur unterhalten und darüber, was der Sinn des Lebens sei.
„Das Leben selbst“, hatte die Großtante gesagt. „Und die Liebe, in jeglicher Form.“
Dann hatte sie von Onkel Carls Großmut geschwärmt und dass er niemals Schlechtes über andere Menschen gesagt hatte.
„Es steht uns nicht zu, über andere zu urteilen“, war einer seiner Leitsprüche gewesen. Oder: „Wenn man nicht selbst drinsteckt, kann man es nicht beurteilen.“
Greta hatte in einem dieser innigen Momente gefragt, ob sich Carl und Mia niemals Kinder gewünscht hätten. Sie hätten ihnen doch so viel mit auf den Weg geben können. Großtante Mia hatte gesagt, dass ein Kind keinen Platz gehabt hätte in ihrem Leben. Außerdem hätte sie durch die ständigen Reisen der Großeltern viel Zeit mit Gretas Vater verbracht. Damit war das Thema beendet gewesen.
Greta hatte zu ihrem Vater ein emotionaleres Verhältnis gehabt als zu ihrer Mutter. Greta hatte in ihr eher die Frau bewundert, statt sie als Mutter wahrzunehmen. Sie hatte etwas Unnahbares gehabt. Greta erinnerte sich genau an das Gefühl, wenn die Mutter ihr mit der Hand über den Arm fuhr. Es sollte wohl Streicheln sein. Doch ihre überlangen, perfekt manikürten Fingernägel jagten dem Mädchen Schauer über den Rücken.
Greta hatte den Eindruck gehabt, als konkurrierte die Mutter mit ihr um die Liebe des Vaters. Dabei hatte Greta in dieser Hinsicht ohnehin auf verlorenem Posten gestanden. Eine unzertrennliche Einheit hatten sie gebildet, ihre Eltern. Schon Nick war nicht dazwischen gekommen.
Einmal in der Woche hatte Greta sich nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter bei einem netten kleinen Nachbarschaftsitaliener zu mediterraner Hausmannskost getroffen. Dabei hatte sie zusehen können, wie sich die Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, allmählich in Luft auflöste. Ihr Teller war nach dem Essen jedes Mal beinahe unberührt gewesen.
Nick war nicht wie Greta mit der Mutter essen gegangen. Dabei hätte sie auf ihn vielleicht sogar gehört. Dass er sich nicht kümmerte, verletzte sie jetzt mit einem Mal zutiefst. Doch das sagte sie nicht Nick, sondern hielt es Greta vor.
„Was soll ich noch hier?“, hatte die Mutter