Die Unterhaltung wird durch die Rückkehr der beiden hübschen jungen Damen aus dem Speisewagen unterbrochen. Albert muss aufpassen, dass er Fräulein Schubert nicht wieder anstarrt und schaut fast zu auffällig weg. Er muss unbedingt einen Weg finden, sich zu beherrschen, aber diese Frau verwirrt ihn, er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Zum Glück ist er in diesem Abteil nicht allein mit den beiden jungen Frauen, sein Verhalten würde sonst den Anschein vermitteln, er sei ein Psychopath.
Da übernimmt Pastor Koch glücklicherweise wieder die Initiative und spricht zu Isabell: „Ihrem Gepäck geht es gut, ich habe es keinen Moment aus dem Auge gelassen.“
„Na das ist schön, geht es meinen Spinnen auch gut?“ fragt Fräulein Schubert mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
Da weiten sich den beiden Männern die Augen. „Soll das heißen, Sie haben in ihrer Tasche Spinnen?“ fragt Albert entsetzt und rutscht automatisch ein bisschen weiter von den Taschen weg. „Ich hoffe doch, dass die gut weggesperrt sind“, fügt Pastor Koch noch hinzu. Bevor jedoch Fräulein Schubert etwas sagen kann, fängt ihre Zofe Fräulein Sophie laut zu lachen an, und auch Fräulein Schubert kann sich das Lachen nicht mehr verkneifen. „Keine Angst, die Spinnen sind gut weggesperrt, hier in diesen kleinen Kästen“, erklärt sie und packt zwei Schaukästen aus, in denen je eine große Spinne festgepinnt ist.
„Sehen Sie, die sind vollkommen ungefährlich, die beiden Tierchen sind nicht mehr am Leben. Ich bringe sie meinem Vater als Exponate für die Ausstellung, damit die Besucher sehen können, wer für die tollen Stoffe eigentlich verantwortlich ist. Erst wollten wir lebende ausstellen, aber die Gefahr ist zu groß, dass sie geraubt werden und jemand anderes mit der Produktion beginnt.“
„Ich glaube, das wird auf der Ausstellung ein generelles Problem sein, dass neue Techniken oder auch Produkte geklaut werden, um sie nachzubauen. Damit werde ich wahrscheinlich im Dienst öfters zu tun bekommen. Es ist dank der Technik immer einfacher zu spionieren. Die Kameras werden immer besser und kleiner. Seit es die kleinen Kameras ohne Platten sondern mit Film gibt, kann mittlerweile jeder damit umgehen. Klar muss man auf der Ausstellung die Aussteller um Erlaubnis fragen, aber so ein Foto ist schnell gemacht. Mit der Handkamera darf man kostenlos fotografieren, aber die professionellen Fotografen müssen pro Tag 25 Franc oder sogar 1000 Franc für die gesamte Dauer der Ausstellung zahlen, um eine Profikamera aufstellen zu dürfen.“
„Gut zu wissen, worauf man achten muss, ich habe von meinem Vater eine Kamera bekommen und auch schon viel damit herumexperimentiert. Auf so einer Reise wäre es ein Verbrechen, wenn man seine Kamera vergessen hätte“, während Isabell dies sagt, holt sie aus ihrem Handgepäck eine Filmkamera heraus und präsentiert sie stolz. „So etwas hätte ich auf meinen Reisen auch haben sollen, was für schöne Motive ich gesehen habe, sei es bei den Eingeborenen oder in der Tier- und Pflanzenwelt, einfach schade, dass ich mir da keine Andenken machen konnte“, bedauert der Pastor während er sich die Kamera anschaut.
„Da kommt mir eine Idee!“ ruft Isabell aus. „Was halten Sie davon wenn ich ein Foto von uns mache, das erstes Foto meiner Parisreise.“ Bevor jemand überhaupt etwas dagegen sagen konnte zielt sie schon mit dem Objektiv auf die Mitreisenden, die gerade noch genügend Zeit hatten, sich in Pose zu setzten, bevor es klick macht. „So das war`s schon. Das hat doch nicht wehgetan oder?“ „Das nicht, aber ich hoffe doch, dass Sie mir und Herrn Pastor Koch einen Abzug zukommen lassen?“ „Gerne, wo soll ich es denn hinschicken?“ fragt Isabell nach. Das lässt sich der junge Albert nicht zweimal sagen und reicht Isabell seine Visitenkarte mit den Worten: „Bitte sehr, auf dieser Karte steht allerdings nur meine Adresse in Berlin, ich werde Ihnen noch schnell meine Unterkunft in Paris aufschreiben, sonst muss ich ewig auf einen Abzug warten. Ich habe eine Privatunterkunft für die gesamte Dauer der Weltausstellung, sie befindet sich in der Avenue d`Antin.“ Mit diesen Worten schreibt Albert seine Pariser Adresse auf die Rückseite der Karte.
„Das ist witzig, meine Unterkunft ist in der Avenue Montaigne, ganz in ihrer Nähe“, meldet sich Pastor Koch zu Wort und gibt Isabell und Albert auch seine Visitenkarte. Am Ende tauscht schließlich jeder mit jedem seine Karte aus, dabei kommt auch heraus, dass Isabell und Sophie ein Appartement in der Rue de Rivoli haben, also wohnen zufällig alle recht nah beieinander.
„Vielleicht können wir uns alle in den nächsten Tagen in Paris mal treffen? Es ist selten, dass man auf einer Fahrt eine so nette Gesellschaft kennen lernt“, fragt Albert natürlich „ohne“ Hintergedanken in die Runde. Pastor Koch willigt begeistert ein und Isabell nach kurzem Zögern schließlich auch.
„Gehen die Herrschaften gerne ins Theater oder in die Oper? Ich habe gehört man soll unbedingt ins Théâtre française gehen, dass soll ein Muss sein, man spielt dort französische Klassiker - Dramen und Lustspiele, dort könnten wir uns doch in den nächsten Tagen treffen?“ schlägt Pastor Koch vor, worauf Isabell gleich ins Wort fällt: „Daraus wird wohl nichts. Das Théâtre française ist am 8. März abgebrannt und wird wahrscheinlich erst im Juli wieder eröffnet, das werden wir während unseres Aufenthaltes leider nicht anschauen können. Das stand doch in allen Tageszeitungen. Allerdings führt das Ensemble seine Vorführungen im Odeon Theater oder in der Oper auf, wenn dort spielfrei ist. Es gibt aber auch genügend andere Möglichkeiten wie die Opera-Comique, das Palais Royal, eines der Kabaretts, oder wir besuchen eines der Cafés Concert.“ „Das wäre auch nicht schlecht, da müssen wir allerdings auch einen Tag finden, an dem wir alle Zeit haben. Dann kann man vielleicht auch eher sehen, welche Etablissements in Frage kommen. Allerdings muss ich jetzt schon sagen, dass ich meine Termine für meine Vorträge in der Missionars-Sonderausstellung erst noch bekommen werde“, wirft der Pastor mit bedauern ein. „Dem muss ich leider beipflichten“, meldet sich Albert zu Wort, der eigentlich die Idee dazu hatte, „Ich werde die ersten Tage auch noch viel zu tun haben, ich muss mich zum Dienst melden und werde mich mit der französischen Gendarmerie anfreunden müssen, man wird mir wahrscheinlich so einen Flick an die Seite stellen. Erst muss ich morgen zur Gesandtschaft des Deutschen Reiches in der Rue de Lille und anschließend zur Polizeipräfektur auf der Île de Cité im Zentrum der Stadt. Morgen ist auch noch der einzige Tag, an dem ich eine Bank aufsuchen kann, um meine Wertsachen zu hinterlegen. Schließlich beginnt übermorgen auch mein Dienst, dann habe ich erst mal keine Zeit mehr“, muss Albert mit Bedauern feststellen. Dieses Treffen wird wohl nicht zustande kommen.
Mittlerweile ist es schon recht spät und es wird ruhig im Abteil, einer nach dem anderen legt sich zurück und macht die Augen zu. Das beständige Geräusch „Ta-Tack, Ta-Tack,“ welches die Räder machen, wenn sie über die Schwellen rollen, begünstigt den Schlaf, es ist ein monotones, beruhigendes Klacken.
13.04.1900 Willkommen in Paris
Am nächsten Morgen rattert der Zug immer noch beständig Richtung Paris, nach und nach erwachen die Reisenden im Abteil. Doch schon nach kurzer Zeit wird der Zug immer langsamer und bleibt letztendlich stehen. Man verspürt plötzlich eine Unruhe im Zug und der Schaffner saust durch den Gang und ruft: „Tout le monde descend – alles raus hier!“ Dies bedeutet anscheinend, dass der Zug in Verviers an der Deutsch-Belgischen Grenze angekommen ist.
Die Reisenden packen alle ihr Handgepäck und verlassen genervt den Zug. Sie begeben sich ins Zollhaus und stellen sich in 5 Reihen an einem langen Tisch an, hinter dem auch 5 Zollbeamte stehen. In diesem Moment beobachtet Albert, wie sich Pastor Koch verhält, der seine Tasche ja mit Lebensmittel und auch Alkohol gefüllt hat - sein Reiseproviant. Er hätte sich besser nicht hinter ihn stellen sollen, denn wenn er seine Tasche öffnet und der Zollbeamte den Inhalt sieht, wird es ganz schön lange dauern, bis es in der Schlange weiter geht. Einer nach dem anderen wird abgefertigt und Albert wird immer nervöser. Nicht so der Pastor, der steht in aller Seelenruhe da und nähert