Und sollte es nur unter den Griechen diese Doppelgeschöpfe höherer Art, diese Heldenmenschen, diese Semonen gegeben haben? Und unsre Ureltern wären Barbarn, und alle nordische Barbarn in diesem Stück Unmenschen gewesen? Menschliches Gefühl muß jedem einwohnen, der ein Mensch ist; es muß, wo es erstickt, wo es in rohe Tapferkeit verschlungen werden soll, erst von tausend Beispielen, von einem großen unter einer Nation lebenden Vorbilde, von dem ganzen Geiste des Volks, und durch alle Eindrücke der Erziehung von Jugend auf gewaltig bestürmt, und dahin endlich gerissen werden, daß es mit diesen Beispielen wetteifre, daß es diesem großen Vorbilde, das den Geist dieses Volks bestimmet, folge. Wo dies nicht ist: da wird sich die unverhüllte Natur zeigen; die Empfindungen der Menschheit werden sich in ein Heldengewand kleiden, und der Sinn des Helden sich wiederum der menschlichen Thräne nicht schämen – es sei unter einem Volke, wo es wolle!
Und wie? wenn wir ein solches Volk auch mitten unter nordischen Gebirgen; mitten unter Barbarn, selbst unter dem Namen eines Barbarischen Volks begriffen, und mit nichts als Kriegen beschäftigt, auffänden? und welches doch gleich fern von Griechenland, als von seinen Sitten, alle die menschliche Empfindbarkeit zeigte, die kaum ein Grieche gezeigt hat – bliebe da noch der Gegensatz so ganz vest: »Unsere nordische Urältern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegen sehen, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuths. Nicht so der Grieche!«6 Wenn ich nun hier einfiele und fortführe: »Nicht so der Schotte, der Celte, der Irre! er äußerte seine Schmerzen und Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege zur Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten.« So hätte ich für meine Barbarn alles gesagt, was L. von seinen Griechen, im Contrast mit den nordischen Barbarn, und doch für meine nordische Barbarn noch nicht gnug.
Ich kenne kein Poetisches Volk der Erde, welches große und sanfte Empfindungen, so sehr in Eine Gesinnung verbunden, und in Einer Seele den Heroismus des Helden- und Menschengefühls so ganz gehabt hätte, als die – alten Schotten, nach Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Gesänge. Eine sichere Maasgabe, da die Ursprünglichkeit dieser Lieder bewiesen, und das ganze Leben der Nation bekannt ist, als ein Leben, das unter Thaten, Empfindungen und Gesängen verstrich, und wo die Gesänge eben zu nichts bestimmt waren, als diese Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies also vorausgesetzt: und in jedem Bardenliede zeigt sich ein Volk, dessen Seele ganz der Tapferkeit und einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, dessen Denkart überhaupt von einem Heldenernst eine gewisse Melancholische Farbe erhalten, und diese auch auf seine weichen Empfindungen verbreitete. Die meisten Stücke der hersischen Dichtkunst kann ich nicht besser, als feierliche Trauergesänge nennen, an die nichts im Alterthume, und was diese Seite des Gefühls betrift, selbst nichts im griechischen Alterthume reicht.
Schilrick7 scheidet von seiner geliebten Vinvela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er verläßt sie: sie bleibt allein: er wird vielleicht fallen; aber Vinvela wird sein gedenken. Ich kenne kein Stück, das an Süßigkeit der Liebe, und an Entschlossenheit des Scheidenden einen solchen Abschied, zwoer so edlen und so fühlbaren Personen, mit fünf Worten des Dialogs so rührend besänge. Ich nehme Leßingen seine Worte auf die Griechen: »Hier der Schotte! Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer: er schämte sich keiner seiner menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten.« Und dieser Schotte war ein Barbar von einem nordischen Gebirge.
Schilrick trauret um seine entfernte Vinvela:8 sie erscheint, sie spricht im sausenden Lüftchen: »Ich hörte von deinem Tode: ich hörte und trauerte um dich, Schilrick. Vor Gram um dich gab ich den Geist auf. Schilrick, ich liege erblaßt im Grabe.« »Sie flieht, sie fährt davon, wie der graue Nebel im Winde. Schilrick klagt sie: die sanfteste, feierlichste Elegie der Liebe! – Nur ein Schotte, würde ich im Leßingschen Enthusiasmus sagen, nur ein Schotte kann zugleich weinen und tapfer seyn!«
Was geht über das Gedicht: Colma, Comala:9 an Wahrheit und Einfalt, an Süßigkeit und Hoheit, an Stärke und Zartheit der Gedanken, der Empfindungen, des Ausdrucks, an Inhalt und Einkleidung; was geht an allem diesem über die Elegischen Liebesgesänge dieser Nation, die sich durch nichts, als an Bardenliedern voll tragischer Heldenthaten und voll tragischer Heldenliebe ergötzten? Nichts, selbst aus dem griechischen Alterthume nichts! Die Liebe der Griechen, ihre sanften Empfindungen und Klagen, sind weicher und wortströmend, wenn ich sie mit diesen Barbarn vergleiche, bei denen die Liebe in stolzer, in heldenstolzer Seele wohnte, sich zu einer sanften Schwärmerei, zu einer erhabnen Heldenzärtlichkeit hob, und auch in den Elegien der Liebe durch große Gesinnungen rühret, und bezaubert. Die gewässerten Klagen unsrer Elegisten ermüden mein Ohr; aber dort, in diesem feierlichen Alterthume, dort tönet eine Melancholie der Liebe, die uns lehret, daß »nicht blos der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer seyn könne,« der barbarische Schotte könne es besser.
Vielleicht aber war dies nur so mit Einer Empfindung der Menschlichkeit, indeß alle andre von Tapferkeit erstickt werden mußten? Wie kann doch Eine Statt finden, ohne zugleich Allen Raum zu machen? Die Elegische Stimme der Schotten ist in der Vater-in der Geschlechtsliebe eben so süß und tapfer, als in der Weiberliebe. Man weiß, was in den alten Zeiten der Ruhm des Stammes galt: eine Empfindung, die bis auf den dummen Ahnenstolz aus den Seelen unserer Zeiten weggeschwemmt zu seyn scheinet. Wo fließen edlere Thränen, als wenn der Sohn Fingals, Ossian,10 das Andenken seiner Söhne und seines Vaters, ihrer Thaten und ihres Todes erneuret – wo sind edlere Thränen, als diese auf den Wangen des Greises, der »gleich einer alten Eiche dasteht: aber der Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe bei den Flügeln des Nords. Allein, allein soll ich an meinem Orte zu Staube werden.« So klagt der tapfere Ossian, und so läßt derselbe den Arnim, so den grauhaarigen Carryl klagen: so klagen die Helden, die Väter ihrer Stämme. Alle Empfindungen der Helden und der Menschen, z.E. Vaterlands- und Geschlechter- Freundes- und Weiber- und Menschenliebe – alle leben in den Gedichten dieses Volks, wie in Abdrücken ihrer Seele.
Und so war es wohl nicht der Grieche allein, der zugleich weinen und tapfer seyn konnte.11 So war nicht jeder, der Barbar heißt, der in einem rauhen Klima wohnte, und die Bildung der Griechen nicht kannte, von der Art, »daß er, um tapfer zu seyn, alle Menschlichkeit ersticken müßte.« So lag es also wohl nicht an der National-Seele, am Temperament, am Clima, am Gesittetseyn der Griechen, wenn sie beides verbanden: Und so müssen also andre Gründe seyn, die diese Mischung von Heldenthum und Menschlichkeit bei ihnen und bei den Barbarn hervorbrachten, oder nicht hervorbrachten. Sollten uns diese Gründe nicht auf den Weg bringen: worinn und woher auch die Griechen so empfindbar gewesen?
1 Laok. p. 7.
2 Χρειοῖ ἀναγκαίῃ, πρό τε παίδων καὶ πρὸ γυναῖκων. Iliad ϑ, 57.
3 Mallets Geschichte von Dännem. p. 112. 113.
4 Briefe über die Merkwürd. der Litterat. p. 112. 113.
5 Geschichte von Amerika, Th. I. p. 404.