Aber in diesem peinlichen Auftritte, was ist da das Höchste am Ausdruck, was ist der Hauptton desselben? Etwa Geschrei? So wenig, daß Sophokles ja auf nichts sorgfältiger scheint, als zu vermeiden, daß dieß nicht Hauptton würde. Wo sind »die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen, mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte, und alle Opfer, alle heilige Handlungen störte, die schrecklich durch das öde Eiland erschollen;«4 wo sind sie? auf dem Theater? Ja! aber in der Erzälung,5 in der Erzälung seines Feindes Ulysses, der sich darüber rechtfertigen will, daß man ihn ausgesetzt, und verlassen; nicht aber in der Aktion, nicht als ob dieß Geschrei Hauptausdruck wäre. Ein andrer Dichter, ein Aeschylus z.E. würde freilich hieraus mehr Hauptton gemacht, und vielleicht, wie durch seine Evmeniden eine Schwangere erschreckt haben, zu misgebähren: bei einem übertriebenen neuen Tragikus würde Philoktets Gebrülle gewiß schon hinter den Scenen anfangen, und er sich mit wüstem, wildem Geschrei aufs Theater stürzen, wie z.E. Hudemanns Kain durch den schönsten und neuesten Coup de Theatre sich vor dem Eintritt mit seiner Keule meldet, sie vor sich hin wirft, und ihr nach, Länge lang aufs Theater hinfällt. Aber bei dem weisen Sophokles? – Wie hat er den Ton der Angst abgewogen? wie sorgfältig auf ihn bereitet! wie lange unterdrückt! wie oft unterbrochen! wie sehr durchgängig gemildert! Der ganze Auftritt kann ein Gemälde des Schmerzes heißen durch alle seine Grade vom stummen, bis zum betäubenden Schmerze, der sich selbst gleichsam ertödtet; aber im Ganzen, doch das Gemälde des zurückgehaltenen und nicht des ausgelassenen Schmerzes, dieß ists unstreitig bey Sophokles vom Anfang zu Ende.
Und daher auch die Kürze des Akts, der kurz in Worten, aber lang in der Vorstellung ist. Käme es hier auf das Schreien, auf die jammervollen Ausrufungen, auf das ausgestoßne und »abgebrochne häufige ἆ, ἆ an,« wie Hr. L.6 will: so weiß ich nichts was entweder schneller auf einander folgen, oder den Zuschauer unwillig machen muß. Aber das Zurückhalten, das peinliche Verschmerzen, die langen Kämpfe mit dem Weh im Stillen, die endlich mit einem verstohlnen ὠ μοι! μοι! geschlossen werden; diese dehnen, diese schleichen, und sie sind der Hauptton des ganzen Auftritts. Nun setzen Sie noch den dämmernden Chorus hinzu, der dem entschlafnen Philoktet sein Schlaf- sein Ruhelied, in sanften langsamen Zügen singet, und hier nicht bloß den Akt beschließet, sondern selbst im Akte ist; denn der schlafende Philoktet lieget dem Zuschauer vor Augen; diesen, sage ich, setze man hinzu, und es ist ein langer, ganzer, vollendeter Akt, der meine Seele füllet: aber nicht durchs Ausstoßen, sondern eben durch das Rückhalten des Ach! Und so kann Winkelmann mit Recht sagen: Laokoon leidet, wie Sophokles Philoktet: nur jener, als Bildsäule, bei welcher ein Seufzer ewig dauret, ewig die Brust beklemmet, und dieser als Tragische Person, die den langen Seufzer endlich mit einem Ach! schließen, und den wieder kommenden Schmerz mit einem Ach! empfangen muß, die zwar auf einer Saite des Jammers herum irret, aber mit abgesetzten, mit langsam wiederkommenden, mit etwas auf- und absteigenden, mit Zwischentönen des unterdrückten Schmerzes. Sophokles war also derselbe weise Meister in seinem Philoktet, wie Polydorus in seinem Laokoon, und bei beiden zeigt sich, nur nach der Verschiedenheit ihres Vorwurfs, einerlei Weisheit, den stillen, den prägnantsten Ausdruck, zu suchen, und dem übertriebnen Ausdruck zu entweichen. Und das sagt Winkelmann! Allerdings ist Schreien der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes:7 nur jede Kunst der Nachahmung, und so darf ich auch sagen, jede Gedichtart, hat in Nachahmung dieses Ausdruckes ihre eigenen Gränzen. Wie abwechselnd ist Homer in der Art, wie seine Krieger, seine Helden niederfallen, und wie wiederholend in dem, was den Niederfallenden und Sterbenden gemein ist; aber weder jene Abwechselung, noch diese Wiederholung macht mir das leßingsche Wort verständlich: »Homers Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden!«8 Sehr selten, möchte ich sagen, (wenn mich nicht mein Gedächtniß aus Homer trügt) und fast gar nicht, außer wenn eine nähere Bestimmung dieses Charakters es fodert. So gewöhnlich ihm ist, das sein Krieger mit klirrenden Waffen, mit bebendem Boden u.s. w. fällt und stirbt indem ihm Dunkelheit die Augen deckt;9 so ungewöhnlich fällt und stirbt einer mit Geschrei, mit Heulen: und alsdenn ist dieß »nicht der natürliche Eindruck des körperlichen Schmerzes,« sondern ein Charakterzug seines Verwundeten. So heult z.E. bei seiner Verwundung ein Pherekles;10 aber dieser Pherekles ist ein Trojaner, ein unkriegerischer Künstler, ein feiger Flüchtling, der auf der Flucht eingeholt wird; und freilich ein solcher kann sich durch ein Geheul auf seinen Knieen unterscheiden; aber offenbar »nicht der leidenden Natur ihr Recht zu lassen,« sondern vermöge seines Charakters. Vermöge dieses, schreiet die Venus laut;11 denn sie ist die weichliche Göttin der Liebe: ihre zarte Haut ist kaum gestreift, kaum wird sie den rothen Ichor, das Götterblut, gewahr, so entsinken ihr die Hände; sie verläßt die Schlacht, sie weint vor Bruder, Mutter, Vater und dem ganzen Himmel: sie ist untröstlich. Wer will nun sagen, daß mit diesem allen Homer sie charakterisiere, »nicht um sie als die weichliche Göttin der Wollust zu schildern, sondern vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht zu geben?« Wäre dieß, wie würde er so genau die Seite des Weichlichen12 mit jedem Bilde, mit jedem Worte, mit jeder Bewegung zeichnen? wie würde er sie noch oben drein, von Pallas verspotten lassen, als hätte sie sich bei einem Liebeshandel vielleicht geritzt? wie würde selbst ihr lieber Vater Jupiter über sie lächeln? Lachet dieser, spottet jene, um der leidenden Natur ihr Recht zu geben? und welche leidende Natur ist ein Ritz der blendenden Haut? – Eben so wenig schreiet der eherne Mars13 aus einer andern Ursache, als eben – weil er der eherne, der Eisenfressende Mars ist, der im Getümmel der Feldschlacht raset, und eben so wild bei der Verwundung aufschreiet. Nichts ist ungezweifelter, als dieß, wenn wir Homer sagen lassen, was er sagt; denn wäre es ihm auch nur je eingefallen, das Schreien, als »einen natürlichen Ausdruck des körperlichen Schmerzes« und nicht mit höhern Absichten zu gebrauchen, so wäre der Ausdruck: »Er ward verwundet und schrie!« ihm so geläufig, als der »er fiel, und schwarze Nacht bedeckte seine Augen.«
So weit sind wir also, daß Homer »das Prädikat des Schreiens, nicht als einen allgemeinen Ausdruck des körperlichen Schmerzes,« nicht als eine absolute Bezeichnung, der leidenden Natur ihr Recht wiederfahren zu lassen gebrauche; es muß in dem Charakter eben dessen, den er schreien läßt, eine nähere Bestimmung dazu liegen, daß eben dieser schreiet und kein andrer. Und da dünkt es mich jetzt unbestimmt, von seinen Helden allgemein zu reden,14 was sie nach ihren Thaten und Empfindungen sind; denn keiner derselben ist an Empfindungen so wenig, als an Worten, Geberden, Körper, Eigenschaften dem andern gleich; jeder ist eine eigne Menschenseele, die sich in keinem andern äußert.
Noch minder scheinet mir »das Schreien« der wichtige unveränderliche Zug zu seyn, der zu der unveränderlichen Aeußerung eines Menschengefühls gehören müßte: denn einer kann seufzen, der andre ächzen, der dritte schreien, und ein Hannibal in seinem äußersten Kummer lachen. Am mindesten aber ists nothwendige Bestimmung des Helden, als Mensch betrachtet: so daß er ein Unmensch seyn müßte,