5 Iliad. Σ. v. 148.
6 Laok. pag. 5.
V.
Aber Philoktet? – Hr. Leßing hat einen großen Abschnitt1 darauf gewandt, Sophokles zu vertheidigen, daß er körperliche Schmerzen aufs Theater gebracht, und einen Helden in diesem Schmerze schreien lasse. Die ganze Vertheidigung ist von der Seite des Dramaturgs, und verräth in der seinen Manier der Entwicklung, den Verfasser der Dramaturgie; Schade aber, daß sie ganz auf unrichtige Voraussetzung gebauet ist: bei Sophokles Philoktet sey Geschrei der Hauptton des Ausdrucks seines Schmerzes, und also das Hauptmittel, Theilnehmung zu wirken, das doch nicht ist. Und denn Schade auch, daß sie blos als Dramaturgie, als Anlage zum Drama abgefaßt ist; mich dünkts besser, sich den Eindrücken der Vorstellung zu überlassen, und nichts als Dramaturg zu rechtfertigen, sondern als ein Griechischer Zuschauer auf unverstellte Eindrücke zu merken – –
Und welches sind diese Eindrücke ohngefähr? Wenn ein Griechisches Stück geschrieben ist, um vorgestellt, und nicht um gelesen zu werden, so ists Philoktet: denn die ganze Wirkung des Trauerspiels beruhet auf dem Leben der Vorstellung. Hin also mit Auge und Geist in die Atheniensische Bühne. Der Schauplatz öfnet sich2: ein Ufer ohne die Spur eines Menschen: eine einsame unbewohnte Insel mitten in den Wellen des Meeres: – wie sind diese Reisende dahin verschlagen? was wird in dieser wüsten Einöde vorgehen? – Hier, hören wir, ist Philoktet, der berühmte Sohn Pöans: Elender Einsamer! der Menschlichen Gesellschaft völlig beraubt, hier zur ewigen Einsamkeit verbannet – wie wird er seine Tage hinbringen? – Und er ist krank – krank am Fuße mit einem faulenden Geschwüre! – Noch ärmerer Einsiedler! wer wird dich hier pflegen, dir Speise schaffen, dich reinigen und verbinden? – und wie bist du hergekommen? ach! ausgesetzt – ohne Barmherzigkeit, ohne Hülfe – und wegen eines Verbrechens, wegen seines Eigensinns? Nein, wegen seines barmenden Geschreies! Ach! die Unmenschen, was kann der Kranke, der Elende anders, als weinen, als schreien? und selbst diese Linderung ihm nicht zu gönnen, diese kleine Ungemächlichkeit nicht zu ertragen, ihn auszusetzen! Wer hat ihn ausgesetzt? die Griechen, sein Volk, seine Gefährten – vielleicht geschahe es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der Griechischen Heerführer vom – Ulysses selbst. Und eben dieser Ulysses kann uns so etwas, so kalt erzählen, so lau abbrechen, er darf noch die Insel sehen, er hat neue Anschläge wider ihn – o des Bösen! wer wollte nicht mit einem armen, einsamen, verlassenen Kranken, mit dem niemand Mitleiden gehabt, gegen den Treulosen Parthei nehmen, der ein Werkzeug seines Unglücks war.
Nun fällt uns die Wohnung des Elenden näher in die Augen – eine unbewohnte Höle! – Ist noch etwas Hausgeräth und Speise darinn? zertretenes Gras – ein elendes Lager der Thiere! – hier muß der Held liegen, ohne den Troja nicht kann erobert werden: ein Becher von Holze, etwas Feuergeräth – ist der ganze Schatz des Königes – und o Götter! hier Eitervolle Lappen, Zeugen seiner Krankheit! – Er ist fort – wie weit kann der Elende fort hinken? Ohne Zweifel mußte ers – nach Speise vielleicht! vielleicht nach einem lindernden Kraut! daß ers doch fände! daß man ihn doch sähe! Indessen3 geht die Scene des Betruges an, da Ulysses den Neoptolemus so weit bringt, daß dieser gutherzige Redliche, der Sohn des redlichen Achilles, einen Fremden, einen Elenden, mit List durch Lügen und Ränke gefangen nehmen soll. Ich weiß es, daß die Griechen, zumal Sophokles, jene unmoralische Ungeheuer so hasset, als er nur die Moralischen hassen mag, und daß er auf seinem Theater nichts als Menschen, weder Engel, noch Teufel vorstellet; allein Ulysses, wie er hier erscheint, ist nicht blos der schlaue, der verschlagene Ulysses Homers: er ist ein Verführer, der offenbar Grundsätze der Treulosigkeit verräth, die alle Tugend übern Haufen werfen, und pfui des Bösewichts! bei dem das Laster schon zur Sprache durch Grundsätze geworden. Sophokles also will lieber die Vorwürfe der Moralitäts-Pedanten auf sich nehmen, die jeden Ausspruch von der Bühne zu einem Sittenspruche des Pythagoras haben wollen: er malt seinen Ulysses lieber schwärzer, als er sonst zu malen pflegt – um uns nur desto mehr für den armen Philoktet einzunehmen, der von ihm hintergangen ist, und hintergangen werden soll.
Der Chor und Neoptolem sind nun4 beschäftigt, dieses Mitleid für Philoktet tiefer in uns zu prägen; sie wiederholen die vorigen Jammerzüge, vermehren sie durch Vermuthungen und – – da läßt sich von weitem ein Aechzen hören! Daß es ein Aechzen und kein Gebrüll sey, zeigt das Betragen Neoptolems, der, über dem mit seinem Auftrage bestürzt, nicht weiß, woher es kommt? Das Ach kommt näher, es wird ein Wimmern, ein tiefes klägliches Ach – nun ists erst vernehmlich! Sie haben sich nicht geirrt: Philoktet muß kommen, und ach! der Hirte kommt mit einem Tone der Schalmei, und Philoktet mit einem Tone des Jammers – er tritt auf! oder vielmehr er schleicht sich hinan, um –
Nun wird er sich mit Gebrüll aufs Theater werfen? zu schreien anfangen, daß Peter Squenz sagen möchte: lieber Löwe, brülle noch einmal! Wer doch den Kunstrichtern einmal das Gebrüll ausreden könnte, von dem im Griechischen so wenig Spur ist! Einen langen Aufzug durch5 spricht Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er ans Schreien gedenkt: selbst das vorher von ferne tönende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelassen. Der weise Sophokles! wie wird mich der Mann weibisch dünken, wie wird mir sein Ach! verächtlich seyn können, daß er nur hin ächzte, da er allein zu seyn glaubte, das er vor den Fremden gleich verbirgt, und im Gespräche immer bergen kann. Der Leidende ist ein Held.
Und für diesen Charakter sorgt Sophokles genau. Er muß sich erst mehr zum Freunde unsrer Seele machen,6 ehe unser Körper sympathisiren könnte, und wie bekümmert ist der Arme um die Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß sie ihm nachstelleten; der Gutherzige hält sie für Verschlagne, für solche, die seines Theilnehmens werth wären – der Menschenfreund! Er sieht die Griechischen Kleider; ein böses Erinnerungszeichen für ihn an die treulosen Griechen; aber dieß hat er vergessen. Wie wünscht er, daß sie Griechen wären: wie verlangt er, wieder einen Griechischen Laut zu hören! das ist ein ehrlicher Grieche, der kann Griechen interessiren. – Er hört Griechisch: der arme Philoktet hat für Freude all sein heftiges Weh vergessen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den Sohn seines zärtlichen Freundes: er wird offner; er erzält ihm seine Geschichte, rührend wie wenn die Penia selbst erschiene. Er ist ein Freund seiner Freunde: dem todten Achilles opfert er seine Zähre der Freundschaft; er vergißt sich selbst, und seufzet über einen Todten, der glücklicher ist, als er. Er ist ein Freund seiner Freunde; der Sohn des Achilles sieht ihn herzlichen Antheil an sich nehmen, selbst da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen, weil sie brave Leute sind: die Nichtswürdigen verflucht er! Wie sehr hat uns nun Philoktet für sich interessirt, als Menschenfreund, als ein Grieche mit Leib und Seele, als ein Held. Und dieser Held soll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Helden, auf einer wüsten Insel modern? Schmerzliche Abwesenheit, da jene Thaten thun, da jene mit Lorbeern starben, so soll er an einer Wunde ächzen, die ja keine Heldenwunde ist. Er, eine so Griechische Seele, muß fern von seinem Vaterlande, fern von seinem liebenden Vater, der vielleicht schon zu den Schatten gehangen, sein Leben verzehren: er ein betrogener Redlicher – – o Neoptolem, du willst ihn verlassen! o daß ihn Philoktet anflehete! Er thuts, und so dringend: er bestürmt sein Herz von so vielen Seiten, daß die Fürbitte des Chors: erbarme dich seiner! auch unsre Einsprache wird. Wir ärgern uns über Neoptolem, daß ihm der Ekel seiner Krankheit noch Einwendung macht, und lieben ihn, da er – – es ihm verspricht; Er wird ihn