Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johann Gottfried Herder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066398903
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nicht schämen dörfte, ist diese die delikateste; und daß sie es sey, kann ein großer Trupp verliebter Roman- und Theaterhelden beweisen. – – Hier indessen hatten die Griechischen Dichter einen ziemlichen unerkannten Vortheil, nämlich den Zutritt zu einem ihnen nationellen Liebesreiche voll sehr Poetischer Phantasien, die sie aus mancher Verlegenheit reißen mußten. Die Liebesbegebenheiten ihrer Götter und Göttinnen, das ganze Gefolge der Venus, der Gratien und Amors, hundert schöne und unterhaltende Anekdoten aus der Mythologie der Liebe, gaben ihrer Sprache der Liebe eine Süßigkeit, und eine Würde, die unsre Zeit nur zu oft nachahmet, um – lächerlich zu werden. Wenn in unsern Elegien und Oden der Amor mit seinen Pfeilen umherflattert, wenn man den Griechen und Römern eine ganze Nomenklatur von Liebesausdrücken abgeborget hat, und diese endlich so gar in Briefe zwischen Mannspersonen ausschüttet: so verliert sich das Spielwerk von der Würde, ich will nicht sagen, einer Heldenseele, sondern nur des gesunden Verstandes völlig ab, und wird fader Unsinn. Oder wenn endlich gar der Gothische Ton der Liebe aus den mitlern Zeiten der Ritter und Riesen, mit der süßen Artigkeit unsrer Zeiten in Eins zusammen fließt: so wird alsdenn der Herzbrechende Parenthyrsus, die weinerliche Galanterie daraus, von der fürwahr! ein Griechischer Held, mit aller seiner Empfindbarkeit für die Schwachheiten Menschlicher Natur, eben so viel wußte, als der weise Sokrates von der Klosterheiligkeit der Kapuciner.

      Ueberhaupt: da die Scene des Menschlichen Lebens noch mehr ins offene Auge fiel: da die Geschäfte der Welt noch nicht so verwickelt und sein, aber um so Verdienstvoller für die Menschheit seyn mochten: da die Nutzbarkeit und Geschicklichkeit und Tugend noch nicht in so krummen Linien zu berechnen, sondern Menschlich war: da zog das Menschengefühl auch die Gemüther noch mehr zusammen; und die Gräber der Guten des Landes foderten die Thräne des Helden. Einfacher und mehr zum Augenschein war das Leben des andern, und seine Tugenden und Verdienste auch also treffender an das Herz, denn ein Held, ein Staatskluger, ein Verdienstvoller, ein Weiser, so wie ihn die alte Zeit foderte, und bildete; konnte doch eher eine Menschliche Thräne hervorlocken, als z.G. ein General nach der Taktik, ein Minister, ein Civilist, ein Litterator der neuern Welt, wenn er nichts als dieses ist; denn bei dem Verlust aller seiner Geschicklichkeiten und Tugenden sind die wenigsten Menschlich, und was ist im Stande, Menschliche Empfindungen zu erregen, als – – Menschheit. Wo bleiben nun die Namen ohne Thaten, die Rangstellen ohne wirkliche Verdienste, die Bemühungen und Aemter unsrer Zeit ohne Geist und Leben, die Religionen ohne Menschliche Tugend – wo bleiben alle sämtliche gelehrte, reiche, vornehme, andächtige Narren unsrer Bürgerlichen und feinen und allerchristlichsten Welt, sind die wohl einer Menschlichen Thräne werth?

      Endlich, als man den wahren Gebrauch des Menschlichen Lebens, und der Glückseligkeit vielleicht besser, obgleich nicht aus Predigten und Moralen, kannte, und das Leben mehr genoß, und Menschlicher anwandte, natürlich waren da auch die bittern Zufälle des Lebens rührender. Der Tod eines Jünglinges, der sein Leben nicht genossen, der in der Blüthe seiner Jahre dahin fällt, wie ein junger schöner Pappelbaum – ein solcher Fall ist bei Homer die Veranlassung zu Bildern, die auch in dem Heldenauge eine zarte Thräne der Menschlichkeit erwecken können, weil sie – Menschlich sind: und ich würde kaum eine gute Idee von dem Jünglinge fassen, den bei Homer diese Bilder nicht rührten. Eine eben so zarte Empfindung erregt der Tod eines Mannes, der sein Leben nur halb gebraucht, der z.E. wie der Protesilaus Homers halbgeendigte Palläste der Pracht, halb vollendete Entwürfe des männlichen Stolzes nachließ, der sich Anlagen und Geschicklichkeiten umsonst erworben, den Diana vergebens jagen, und Pallas umsonst kriegen gelehret: rührende Bilder aus einer Menschlichen Welt, in die uns Homer so gern versetzet, und in der freilich die Helden leben müssen, die »an Thaten den Göttern, und an Empfindungen den Menschen gleich sind.«

      Ich kann meine Materie nicht vollenden; allein zusammen genommen diese Einzelnheiten, wird man ein Zeitalter gewahr, da die Helden, so weit sie über die Menschliche Natur erhoben seyn mögen, doch in dem Gefühle der Betrübniß, und in der Aeußerung derselben durch Thränen, derselben treu bleiben, treuer bleiben, als wir, bei denen dies sanfte Gefühl entweder erstickt, oder in eine weibische Ueppigkeit umgeschmolzen wird. Zurück also in diese Welt setze ich mich, wenn ich die Helden Homers und die Griechischen Tragödien mit ganzer Seele fühlen will: allein auf Griechenland möchte ich dieß Gefühl nicht einschränken: denn wohin das beschriebene Menschliche Zeitalter trift, da auch dieß Gleichgewicht zwischen Tapferkeit und Empfindung; und dieß, dünkt mich, ist überall das Zeitalter zwischen der Barbarei eines Volks, und zwischen der zahmen Sittlichkeit, dem höflichen Schein, in dem wir leben. In diesem stirbt auf gewisse Art Vaterland, Ehe, Geschlecht, Freund und Mensch ab, und mithin erstirbt auch hierum das Gefühl, und die Aeußerung desselben, die Thräne.

      Aber die Empfindung des körperlichen Schmerzes, kann die sich ändern? Ein Schlag bleibt ein Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine Ohrfeige, und wird es, so lange die Welt steht, bleiben. Es ist also nicht der nämliche Fall dieser mit den vorigen Empfindungen, und unser weichlicher Zustand hat vielmehr das Gefühl der Schmerzen unendlich, und oft zum Weibischen erhöhet. Hiernach muß es also umgekehrt seyn, daß, wenn ein Griechischer Theseus, Herkules, Philoktetes, einen Schmerz, eine Wunde einmal fühlet, so müßte ein Sybarit unsrer Zeit ihn siebenfach fühlen, und wenn also »das Schreien der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes, das Recht der leidenden Natur, ein Charakterzug Griechischer Helden seyn soll,« so folgt, daß, wenn jener Einmal, der unsre bei siebenfach heftigerer Empfindung auch siebenfach stärker schreien dörfte und sollte, um – ein Held des Homers zu seyn.

      Wie sollte es denn nun gekommen seyn, daß »wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt gelernt haben, über unsern Mund und Augen zu herrschen, und uns also so grausam das Privilegium der leidenden Natur versaget haben?« Wenn wir die Empfindungen für Vaterland, Freund, Geschlecht, Menschheit und was sey, mithin unter diesen Empfindungen das weiche Gefühl des Schmerzes darüber verloren, und den Verlust, den Mangel derselben mit Anstand und Artigkeit überdeckt haben, so läßt sich das erklären. Nun aber soll uns am körperlichen Schmerz ein größerer Grad von Empfindung beiwohnen, und doch weniger, unendlich weniger Rechte der leidenden Natur? Ja noch dazu, was bei den Heldengriechen, bei minderm Anlasse des Gefühls, Ehre, oder wenigstens erlaubt war, sollte bei uns Weichlichen Schande, und durch den Anstand, der doch wenigstens den Schein der Stärke geben soll, verboten seyn? und zwar als ein Zeichen der Schwäche verboten? – –