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Neben den Marktanteilen und dem Konzentrationsgrad des Marktes zieht die Kommission auch weitere Faktoren wie die Finanzkraft der beteiligten Unternehmen, ihr Zugang zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten und die Entwicklung des Marktes in ihre Bewertung mit ein. Zeigen sich danach bei der Analyse eines Zusammenschlusses wettbewerbswidrige Auswirkungen, so können diese durch eine Reihe von Faktoren neutralisiert werden. Verfügen die Kunden aufgrund ihrer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung über Verhandlungsmacht, indem sie im Falle von Preiserhöhungen jederzeit zu einer anderen Lieferquelle wechseln können, so verfügt die neue Unternehmenseinheit nicht über einen unkontrollierten Verhaltensspielraum. Auch hohe Marktanteile verlieren daher bei einer erheblichen Nachfragemacht der Marktgegenseite an Aussagekraft.[63] Das gleiche gilt, wenn mit potentiellem Wettbewerb von – innerhalb oder außerhalb der EU ansässigen – Unternehmen zu rechnen ist, was entscheidend vom Bestehen und der Intensität von Marktzutrittsschranken abhängt. Dabei kann es sich um rechtliche Umstände, z.B. Handelsschranken, technische bzw. kommerzielle Umstände, z.B. fehlender Zugang zu erforderlichen Technologien, Vertriebsnetze oder auch Verbraucherpräferenzen handeln.[64]
b) Oligopolmarktbeherrschung
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Eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs kann sich auch daraus ergeben, dass mehrere Unternehmen – zwischen denen kein Wettbewerb besteht – zusammen eine marktbeherrschende Stellung einnehmen. Auf der Grundlage der Feststellungen des Gerichts der Union im Fall Airtours prüft die Kommission das Vorliegen eines solchen marktbeherrschenden Oligopols anhand von drei Voraussetzungen.[65] Zum einen muss jedes Mitglied des Oligopols das Verhalten der anderen Mitglieder überwachen können, um festzustellen, ob sich alle Unternehmen parallel verhalten oder ein Unternehmen abweicht. Des Weiteren muss die stillschweigende Koordinierung auf Dauer erfolgen können, d.h., es müssen glaubwürdige Abschreckungsmechanismen vorhanden sein, die im Falle einer entdeckten Verhaltensabweichung zum Tragen kommen können. Diese Abschreckungsmechanismen müssen so massiv sein, dass die Oligopolisten ihr Interesse am ehesten in einer Einhaltung des kollusiven Verhaltens gewahrt sehen. Schließlich muss ausgeschlossen sein, dass Außenseiter wie vorhandene oder künftige Wettbewerber oder auch die Abnehmer die Ergebnisse der Koordinierung durch ihr Verhalten gefährden können.
Für die eigentliche Prüfung der Frage, ob auf einem Markt mit nur wenigen Anbietern ein wettbewerblich strukturiertes Oligopol oder oligopolistische Marktbeherrschung vorliegt, werden in der bisherigen Praxis der Kommission die einzelnen Marktfaktoren und die Eigenschaften der Unternehmen üblicherweise daraufhin analysiert und unterschieden, ob sie ein stabiles wettbewerbsbeschränkendes Parallelverhalten der Oligopolisten fördern oder hemmen.
c) Effizienzgewinne
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Hat ein Zusammenschluss wettbewerbsbehindernde Wirkungen, so können diese auch dadurch ausgeglichen werden, dass der Zusammenschluss zu Effizienzgewinnen bei der neuen Unternehmenseinheit führt, z.B. Kosteneinsparungen oder verbesserte Technologien. In ihrer bisherigen Praxis ist die Kommission bei der Berücksichtigung von Effizienzgewinne jedoch sehr zurückhaltend und stellt insoweit hohe Anforderungen an deren Nachweis. So müssen die Effizienzgewinne fusionsspezifisch und erheblich sein, sich rechtzeitig einstellen und den Verbrauchern in den relevanten Märkten nachprüfbar zu Gute kommen.[66]
d) Sanierungsfusion
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Fehlt es an der Kausalität des Zusammenschlusses für die zu erwartende Wettbewerbsbehinderung, so kann die Kommission den Zusammenschluss nicht untersagen. In der Praxis wird die Kausalitätsbetrachtung vor allem bei Sanierungsfusionen (rescue mergers) relevant. Die Kommission orientiert sich hierbei an den Kriterien der „Failing-Company-Defence“-Doktrin des US-amerikanischen Antitrustrechts.[67] Danach müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss feststehen, dass das zu übernehmende Unternehmen in naher Zukunft wegen finanzieller Schwierigkeiten aus dem Markt ausscheiden würde, falls es nicht durch ein anderes Unternehmen übernommen wird. Zweitens darf sich der angemeldete Zusammenschluss nicht wettbewerblich negativer auswirken als alternative Übernahmeszenarien und drittens muss feststehen, dass die Vermögenswerte des sanierungsbedüftigen Unternehmen ohne den Zusammenschluss zwangsläufig aus dem Markt genommen würden.[68] Die Beweislast für den fehlenden Kausalzusammenhang tragen nach Auffassung der Kommission in jedem Fall die anmeldenden Unternehmen.
e) Beurteilung von Gemeinschaftsunternehmen
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Gemeinschaftsunternehmen sind Unternehmen, die der gemeinsamen Kontrolle durch mindestens zwei andere Unternehmen oder Personen, die sogenannten Mütter oder Gründer, unterliegen (Art. 3 Abs. 1 lit. b). Als ein Mittel der Kooperation zwischen Unternehmen stehen sie auf der Grenze zwischen Kartellen und Unternehmenszusammenschlüssen und werfen eine Vielzahl schwieriger Abgrenzungs- und Bewertungsfragen auf. Gem. Art. 2 Abs. 4 unterliegen Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen, soweit sie kooperative Elemente enthalten, einer Doppelkontrolle: Neben dem Marktbeherrschungstest, der wie bei allen anderen Zusammenschlüssen durchzuführen ist, prüft die Kommission zusätzlich anhand der Kriterien des Art. 101 Abs. 1 und 3 AEUV, ob die Gemeinschaftsgründung eine Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens unabhängig bleibender Unternehmen mitverursacht (Art. 2 Abs. 4). Allerdings führt nicht jeder Koordinierungssachverhalt zur Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 4, da ein gewisses Maß an Koordinierung für jedes Gemeinschaftsunternehmen wesensnotwendig ist. Entsprechend der Theorie des Gruppeneffektes (spill-over-effect) greift diese Vorschrift nur dort ein, wo die Gründerunternehmen durch ihre Zusammenarbeit im Gemeinschaftsunternehmen – infolge eines Gruppeneffektes – dazu veranlasst werden, ihr Wettbewerbsverhalten außerhalb des Gemeinschaftsunternehmens zu koordinieren. Auf eine mögliche Koordinierung zwischen den Gründerunternehmen und dem Gemeinschaftsunternehmen kommt es dagegen nicht an. Damit tritt zur Marktbeherrschung ein weiterer Untersagungs- und Genehmigungstatbestand hinzu, der allerdings innerhalb des Verfahrens und der Fristen der FKVO anzuwenden ist. Liegt eine Verhaltenskoordinierung vor, die die Kriterien des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt, so hat die Kommission innerhalb der Fristen des Art. 10 FKVO über deren mögliche Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV