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Nach der Gesetzesbegründung sind die Kriterien zwar speziell für die Besonderheiten von mehrseitigen Märkten und Netzwerken vorgesehen. Es soll jedoch nicht ausgeschlossen sein, sie auch in anderen Bereichen zu berücksichtigen. Dies spiegelt sich auch in der Formulierung der Vorschrift („insbesondere“) wieder. Nicht geändert hat sich jedoch die Tatsache, dass die Beurteilung der Marktstellung eines Unternehmens auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller gegebenen Umstände zu erfolgen hat. Dabei sind auch nach wie vor die Kriterien des § 18 Abs. 3 GWB, vor allem das Merkmal des Marktanteils (§ 18 Abs. 3 Nr. 1 GWB) auf mehrseitige Märkte und Netzwerke anzuwenden.[69] Kriterien, die die Vorschrift nennt, sind direkte und indirekte Netzwerkeffekte, die parallele Nutzung mehrerer Dienste und der Wechselaufwand für die Nutzer, Größenvorteile im Zusammenhang mit Netzwerkeffekten, Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten sowie innovationsgetriebener Wettbewerbsdruck.[70]
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So beruht zum Beispiel die Marktmacht von Facebook nach den Feststellungen des Bundeskartellamts im Facebook-Verfahren sowohl auf Marktanteilen bei Nutzern als auch auf identitätsbasierten Netzwerkeffekten. Auch wird die besondere Bedeutung des Besitzes großer Datenmengen erwähnt, die eine Markteintrittsbarriere darstellen könnten.[71]
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Auch wenn eine dem § 18 Abs. 3a GWB vergleichbare Regelung im EU-Kartellrecht nicht existiert, ist die Kommission bei bisherigen Fällen einzelfallspezifisch vorgegangen und hat eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände angestellt. So hat sie beispielsweise beim Google-Shopping-Verfahren neben den üblichen Marktanteilskriterien auch noch weitere Effekte herangezogen, die die Marktmacht eines solchen digitalen Unternehmens noch verstärken oder verfestigen könnten. So etwa die verschiedenen Netzwerkeffekte einer mehrseitigen Plattform, die Markteintrittsbarrieren durch große Investments sowie die besondere Marktmacht durch die Verschaffung von Nutzerdaten.[72]
1. Missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung – Generalklausel und Beispielkatalog
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Sowohl nach deutschem als auch nach europäischem Recht ist nicht die Erlangung oder Innehabung der marktbeherrschenden Stellung, sondern deren missbräuchliche Ausnutzung (§ 19 Abs. 1 GWB, Art. 102 AEUV) verboten. Dabei werden mit den Missbrauchstatbeständen sowohl Missbrauchsfälle auf Anbieter- als auch auf Nachfragerseite erfasst.
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Weder das GWB noch der AEUV enthalten eine Definition des Missbrauchstatbestandes. Die Auslegung des allgemeinen Begriffs erfolgt im Kontext mit den allgemeinen Zielen des Kartellrechts, unter besonderer Berücksichtigung des funktionalen Zusammenhangs mit dem Begriff der marktbeherrschenden Stellung. Für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ist weder Kenntnis noch Verschulden erforderlich, es handelt sich um einen rein objektiven Begriff.[73] Nach dem EuGH ist ein Verhalten dann als missbräuchlich einzustufen, wenn es „die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindert, welche von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen.“[74]
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Zur erleichterten Anwendung wurde sowohl im nationalen als auch europäischen Recht die Generalklausel durch einen Beispielkatalog („insbesondere“) konkretisiert. Die Beispiele sind nicht abschließend und nennen lediglich Fälle, in denen regelmäßig von einem Missbrauch auszugehen ist. Dabei deckt sich Art. 102 AEUV in materieller Hinsicht weitestgehend vollständig mit dem deutschen Recht. Die insbesondere im europäischen Recht herausgebildeten Fallgruppen, lassen sich daher auch problemlos in den Beispielkatalog des § 19 GWB einfügen. Im Folgenden wird auf die wichtigsten Abgrenzungen und Fallgruppen rechtsübergreifend eingegangen werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch auf die von der Kommission im Jahr 2009 veröffentlichten Erläuterungen zu ihren Durchsetzungsprioritäten im Rahmen des Art. 102 AEUV hinzuweisen.[75]
2. Kategorien des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung
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Das sehr weite Verständnis des Schutzbereichs des Missbrauchsverbots und die Vielgestaltigkeit der zu erfassenden Sachverhalte bringt es mit sich, dass sich im Laufe der Zeit – losgelöst von der genauen Formulierung der Regelbeispiele des europäischen und deutschen Rechts – Kategorien und Fallgruppen gebildet haben, um einer Zuordnung unterschiedlichster Fälle möglichst systematisch zu begegnen. Dies soll die Einordnung des zu überprüfenden Marktverhaltens und damit die Analyse und Würdigung am Maßstab des deutschen und europäischen Rechts vereinfachen.[76] In diesem Zusammenhang haben sich insbesondere die Kategorien des Ausbeutungsmissbrauchs und Behinderungsmissbrauchs (und in diesem Rahmen der Ungleichbehandlung/Diskriminierung) sowie des Marktstrukturmissbrauchs herausgebildet. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Typisierung nicht erschöpfend ist. Dies würde der weiten Zielsetzung des Missbrauchsverbots – sowohl auf der Grundlage des Art. 102 AEUV als auch des § 19 GWB –, den Wettbewerb auf europäischer bzw. nationaler Ebene vor Verfälschungen zu schützen, nicht gerecht werden. Zudem lassen sich verschiedene missbräuchliche Verhaltensweisen vielfach gleichzeitig verschiedenen Missbrauchskategorien zuordnen, sodass es regelmäßig zu Überschneidungen kommt.[77] Im Folgenden wird daher insbesondere auf die häufigsten anzutreffenden und sowohl im deutschen als auch EU-Recht bedeutendsten Fallgruppen innerhalb der Missbrauchskategorien eingegangen.
a) Abgrenzung der Missbrauchskategorien
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Bei der Unterscheidung der Missbrauchskategorien ist der Übergang je nach Fallgestaltung fließend und eine genaue Zuordnung teilweise weder möglich noch erforderlich. Die grundsätzliche Unterscheidung kann jedoch das Verständnis und die Abgrenzung erleichtern. Während der Ausbeutungsmissbrauch vornehmlich eine vertikale Schutzrichtung verfolgt, ist der Behinderungsmissbrauch überwiegend horizontal ausgerichtet. So ist der Ausbeutungsmissbrauch insbesondere dadurch geprägt, dass der Normadressat aufgrund seiner marktbeherrschenden Stellung in der Lage ist, geschäftliche Vorteile zu erlangen, die er sich bei rechtmäßigem Wettbewerb nicht hätte sichern können. Dabei sollen die Unternehmen einer anderen Wirtschaftsstufe, nicht hingegen die direkten Wettbewerber des Unternehmens, geschützt werden. Der Behinderungsmissbrauch umfasst hingegen vornehmlich den Wettbewerb schwächendes Marktverhalten, indem die Wettbewerbsmöglichkeiten anderer Unternehmen durch die Marktmacht des beherrschenden Unternehmens beeinträchtigt werden. Während der sog. Strukturmissbrauch im europäischen Recht die missbräuchliche unmittelbare Veränderung der Wettbewerbsstruktur – insbesondere durch Aktienkauf oder Fusion – durch ein marktbeherrschendes Unternehmen bezeichnet,[78] bezieht er sich im nationalen Recht auf das Regelbeispiel des § 19 Abs. 2 Nr. 3 GWB (Preis- und Konditionenspaltung) als Unterfall des Ausbeutungsmissbrauchs.[79]
b) Ausbeutungsmissbrauch
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Die