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Auch wenn eine vergleichbare Regelung im EU-Kartellrecht fehlt, hat die Kommission auch bei Marktabgrenzungen in Fällen unentgeltlicher Leistungsbeziehungen bereits Argumentationsmöglichkeiten zur Marktabgrenzung gefunden. Dabei konnte sie nicht wie üblich preisbasierte Methoden heranziehen. Im Google Shopping Verfahren bezog die Kommission daher beispielsweise Kriterien ein wie unter anderem allgemeine Marktbeobachtungen, Googles eingebrachte Informationen und Ergebnisse von Fragebögen. Dabei wurde vor allem auf fehlende nachfrage- und angebotsseitige Substituierbarkeit für die Internetsuche, zum Beispiel durch Drittwebseiten wie soziale Netzwerke, eingegangen.[35]
2. Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung
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Während der Begriff der marktbeherrschenden Stellung im nationalen Recht definiert ist (§ 18 Abs. 1 GWB), findet sich im europäischen Kartellrecht keine vergleichbare gesetzliche Regelung. Dennoch laufen beide Rechtssysteme weitgehend parallel. Gem. § 18 Abs. 1 GWB ist ein Unternehmen marktbeherrschend, wenn es als Anbieter oder Nachfrager auf dem relevanten Markt entweder ohne Wettbewerber oder keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine im Verhältnis zu seinen Mitbewerbern überragende Marktstellung besitzt. In diesem Zusammenhang hat der nationale Gesetzgeber in § 18 Abs. 3 GWB versucht, durch eine beispielhafte Aufzählung von Merkmalen die überragende Marktstellung zu umreißen.
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Der EuGH definiert die marktbeherrschende Stellung i.S.d. Art. 102 AEUV als „die wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens (…), die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und schließlich den Verbrauchern gegenüber in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten.“[36] Nach Auffassung des EuGH ergibt sich das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung dabei im allgemeinen aus dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die jeweils für sich genommen nicht ausschlaggebend sein müssen.[37]
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Anders als im deutschen Recht ist weitere Tatbestandsvoraussetzung des Art. 102 AEUV, dass die beherrschende Stellung auf mindestens einem wesentlichen Teil des Unionsmarktes bestehen muss. Die Beurteilung der Wesentlichkeit erfolgt dabei unter Zugrundelegung der Relevanz des betreffenden Marktes für den Wettbewerb innerhalb der Union. Damit soll sichergestellt werden, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen nur auf solchen Märkten erfassen soll, deren Entwicklung für den Wettbewerb in der Union wichtig sind. Diese Unionsrelevanz bestimmt sich insbesondere nach seiner wirtschaftlichen Bedeutung für den Gesamtmarkt, wobei die Struktur des betreffenden Marktes, Größe und Umfang der Produktion sowie Umfang des Konsums zu berücksichtigen sind.[38]
a) Einzelmarktbeherrschung
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Sowohl § 18 Abs. 5 GWB als auch Art. 102 AEUV unterscheiden zwischen einer Einzelmarktbeherrschung sowie der kollektiven Marktbeherrschung. Bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens sind grundsätzlich alle konzernrechtlich sowie zu einer wettbewerblichen Einheit verbundenen Unternehmen einzubeziehen.[39] Verbundene Unternehmen in diesem Sinne fallen daher unter den Begriff der Einzelmarktbeherrschung, nicht etwa der kollektiven Marktbeherrschung.
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Während das GWB zwischen einer Monopol- bzw. einer Quasi-Monopolstellung (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GWB) sowie einer überragenden Marktstellung (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 GWB) unterscheidet, trifft Art. 102 AEUV keine Differenzierung im Bereich der Einzelmarktbeherrschung. Aber auch im deutschen Recht hat die Unterscheidung in der Praxis an Bedeutung verloren. Maßgeblich ist für alle Alternativen einer Einzelmarktbeherrschung eine Marktsituation, in der das Unternehmen über einen wettbewerblich nicht kontrollierten Verhaltensspielraum verfügt.[40] Dabei erfordert die Feststellung einer überragenden Marktstellung eine Gesamtbetrachtung aller für den betroffenen Markt bedeutsamen Wettbewerbsbedingungen.[41] Ein marktbeherrschendes Unternehmen besitzt die Fähigkeit, „die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem [seine Marktstellung] ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Konkurrenten, seinen Kunden und letztlich den Verbrauchern gegenüber in nennenswertem Umfang unabhängig zu verhalten.“[42]
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Die Marktbeherrschung ist eindeutig zu bejahen, wenn das Unternehmen das einzige auf dem Markt tätige Unternehmen ist und damit eine Monopolstellung hat.[43] Dabei schließen auch gesetzlich begründete Monopole oder Wettbewerbsbeschränkungen die Marktbeherrschung nicht aus.[44]
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Auch bei einem Quasi-Monopol ist eine Marktbeherrschung leicht zu ermitteln. Davon spricht das Gesetz in § 18 Abs. 1 Nr. 2 GWB bei Unternehmen, die in einem relevanten Markt „keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt“ sind. Dabei orientiert sich die europäische und nationale Rechtspraxis überwiegend an der Marktstellung des betroffenen Unternehmens mit besonderem Fokus auf seinen jeweiligen Marktanteil. Nach europäischer Rechtsprechung kann sich die Bedeutung der Marktanteile von einem zum anderen Markt durchaus unterscheiden. Das „dauerhafte Innehaben eines besonders hohen Marktanteils liefert jedoch – von außergewöhnlichen Umständen abgesehen – den Beweis für das Vorliegen einer beherrschenden Stellung.“[45] Während die deutsche Rechtsprechung für das Vorliegen einer Quasi-Monopolstellung einen Marktanteil von über 80 % verlangt,[46] geht aus der europäischen Rechtsprechung hervor, dass ein „Marktanteil von 70–80 % für sich genommen ein klares Indiz für eine beherrschende Stellung“ ist.[47]
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Neben diesen sehr eindeutigen Fällen – sowohl nach nationalem als auch europäischem Kartellrecht – kann auch Unternehmen mit „nur“ einer überragenden Marktstellung eine marktbeherrschende Stellung zugesprochen werden. Dafür ist erforderlich, dass das betreffende Unternehmen gegenüber seinen Wettbewerbern besondere, vom Wettbewerb nicht mehr hinreichend kontrollierte Verhaltensspielräume hat und daher sein Marktverhalten unabhängig vom Verhalten seiner Wettbewerber festlegen kann. Bei der Bestimmung einer überragenden Marktstellung in diesem Sinne wird insbesondere die Marktstruktur und (ergänzend) das Marktverhalten des betreffenden Unternehmens berücksichtigt. Wichtigste Funktion kommt in diesem Zusammenhang dem Marktanteil des betreffenden Unternehmens und dessen Vergleich mit dem anderer Unternehmen zu. Während im europäischen Recht der Rechtsprechung zufolge „Marktanteile von mehr als 50 % besonders hohe Marktanteile“ darstellen und die Vermutung zulassen, dass eine beherrschende Stellung vorliegt,[48] geht das GWB darüber hinaus und normiert ausdrücklich bereits die Vermutung einer einzelmarktbeherrschenden Stellung ab einem Marktanteil von 40 % (§ 18 Abs. 4 GWB).
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Trotz der Vermutungsregelung des GWB gilt für die Behörden im Verwaltungsverfahren weiterhin der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Vermutung bedeutet daher nicht, dass den Unternehmen die Darlegungslast durch Gesetz auferlegt wird. Die Vermutung greift aber jedenfalls dann, wenn nach Ausschöpfung aller Erkenntnismittel und entsprechender Würdigung Zweifel bestehen bleiben, ob eine marktbeherrschende Stellung auszuschließen oder anzunehmen ist. Das betroffene Unternehmen gilt dann – sofern ihm der Gegenbeweis nicht gelingt – als marktbeherrschendes Unternehmen.[49] Im Kartell-Zivilverfahren kommt der Vermutungsregelung nach herrschender Meinung hingegen lediglich eine Indizwirkung, jedoch keine Beweislastumkehr zu. Dennoch wirkt es sich in der Hinsicht aus, dass ein in Anspruch genommenes Unternehmen aufgrund