Die Kommission hat im Jahr 2004 „Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags“[4] vorgelegt, die zwar die mitgliedstaatlichen und europäischen Gerichte sowie die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nicht binden, aber gleichwohl bei der Interpretation der Zwischenstaatlichkeitsklausel von großer Bedeutung sind, da diese sich eng an die in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte entwickelten Vorgaben für die Auslegung dieser Klausel halten.
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Die Anwendungsbereiche von Art. 102 AEUV und § 19 GWB lassen sich in der Praxis allerdings nur schwer voneinander abgrenzen. Die Praxis der deutschen Kartellbehörden lässt daher oftmals die Frage offen, ob im Einzelfall Art. 102 AEUV oder § 19 GWB Anwendung findet und wendet beide Normen parallel an.[5]
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Gem. Art. 3 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1/2003 kommt dem europäischen Kartellrecht eine Vorrangstellung gegenüber den Regelungen des GWB zu. Allerdings sind die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO (EU) Nr. 1/2003 befugt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere Vorschriften zur Unterbringung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen bzw. anzuwenden.
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Während die Kommission und die europäischen Gerichte ausschließlich europäisches Recht anwenden, haben die deutschen Kartellbehörden und Gerichte im Falle des Vorliegens eines zwischenstaatlichen Bezuges die Wahl: Sie können ausschließlich europäisches Recht oder parallel deutsches und europäisches Recht anwenden. Eine isolierte Anwendung nationalen Rechts im Falle eines zwischenstaatlichen Bezugs ist jedoch nach § 22 Abs. 3 GWB und Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 1/2003 nicht möglich. Kommt der deutsche Rechtsanwender zum Ergebnis, dass Art. 102 AEUV nicht verletzt ist, wohl aber § 19 oder § 20 GWB, so darf er das strengere deutsche Recht auch anwenden.[6]
B. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
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Die wesentlichen Anknüpfungspunkte des Missbrauchsverbots sind das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung (I.) sowie der Missbrauch dieser Stellung (II.).
I. Marktbeherrschende Stellung
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Unter einer beherrschenden Stellung wird nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH „die wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens […]“ verstanden, „die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern […].“[7] In Übereinstimmung damit findet sich im deutschen Recht eine Definition, wonach gem. § 18 Abs. 1 Nr. 1–3 GWB Unternehmen als marktbeherrschend zu qualifizieren sind, die als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt entweder (1) ohne Wettbewerber sind, (2) sich keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt sehen oder (3) eine überragende Marktstellung im Verhältnis zu ihren Wettbewerbern besitzen. Sowohl im europäischen als auch im deutschen Recht wird damit die Marktbeherrschung an einen eng umgrenzten Markt gekoppelt. Es gilt damit das sog. Marktmachtkonzept, wonach sich wirtschaftliche Macht eines Unternehmens nur auf dem jeweiligen relevanten Markt bilden kann.[8] Die Feststellung einer beherrschenden Stellung erfordert also immer eine Marktabgrenzung, weil nur so festgestellt werden kann, ob das jeweilige Unternehmen auf dem Markt in einem hinreichenden Wettbewerb mit anderen Unternehmen steht oder ob es über einen vom Wettbewerb nicht mehr hinreichend kontrollierten Verhaltensspielraum verfügt. Erst nach erfolgter Marktabgrenzung kann in einem zweiten Schritt die Frage nach einer beherrschenden Stellung auf diesem Markt beantwortet werden.[9]
1. Abgrenzung des relevanten Marktes
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Die Marktabgrenzung erfolgt – sowohl im deutschen als auch im europäischen Recht – anhand sachlicher, räumlicher und zeitlicher Kriterien. Es handelt sich bei der Abgrenzung von Märkten, wie das allgemeine Wirtschaftsgeschehen, um einen dynamischen und steten Wandel ausgesetzten Bereich. Es ist daher zwingend, die aktuelle Praxis der Kartellbehörden und Gerichte im Blick zu haben. Die Marktabgrenzung hat auf den durch die Rechtsprechung entwickelten rechtlichen Kriterien zu beruhen und hat im Regelfall aus Sicht der Marktgegenseite zu erfolgen.[10] Deshalb ist bei der Marktabgrenzung streng zwischen Angebots- und Nachfragemärkten zu unterscheiden. Während es bei Angebotsmärkten auf die Sicht des Abnehmers ankommt, ist bei Nachfragemärkten die Sicht des Anbieters entscheidend.
a) Der sachlich relevante Markt
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Der sachlich relevante Markt bezieht sich auf Waren und gewerbliche Leistungen, die sich aufgrund ihrer Eigenschaften, ihres Verwendungszwecks sowie ihres Preises zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs besonders eignen und mit anderen Waren bzw. Dienstleistungen nur in einem geringen Maße austauschbar sind.[11] Maßgeblich für die Austauschbarkeit ist, ob die Produkte aus Sicht der verständigen Marktgegenseite als für die Deckung eines bestimmten Bedarfs geeignet angesehen werden. Abweichende Präferenzen einiger Nachfragegruppen sind dabei unbeachtlich, entscheidend ist vielmehr die Sicht des überwiegenden Teils der Marktgegenseite. Mögliche Nachfragegruppen, auf deren Sichtweise es für die Bestimmung des zu befriedigenden Bedarfs ankommt, können beispielsweise private Verbraucher, gewerbliche Endkunden, Einzelhändler oder Großkunden sein.[12]
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Diese Form der Marktabgrenzung mit Hilfe des sog. Bedarfsmarktkonzepts ist nach Auffassung des BGH lediglich ein Hilfsmittel für die Feststellung, ob ein Anbieter oder Nachfrager von Waren oder Dienstleistungen marktbeherrschend, also keinem oder einem nur unwesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist. Ziel der Bestimmung des sachlich und räumlich relevanten Marktes müsse laut BGH die Ermittlung der Wettbewerbskräfte sein, denen sich die beteiligten Unternehmen zu stellen hätten. Die Marktabgrenzung ermögliche es, die missbräuchliche Ausnutzung nicht hinreichend vom Wettbewerb kontrollierter Handlungsspielräume zulasten Dritter zu unterbinden.[13] Das Bedarfsmarktkonzept ist daher nur als ein Modell zur Abbildung von Märkten anzusehen, welches im Einzelfall stets auf seine Plausibilität hin überprüft werden muss. Vorzunehmen ist eine zweckgebundene Anwendung, die im konkreten Einzelfall die relevanten Wettbewerbskräfte zu ermitteln hat.[14] Insbesondere bedarf das Bedarfsmarktkonzept dann einer Korrektur, wenn das Modell im Einzelfall nicht dazu geeignet ist, die Wettbewerbskräfte, denen ein Unternehmen ausgesetzt ist, genügend darzustellen,