Über die Begründetheit einer Beschwerde kann der Ausschuss seit Inkrafttreten des 14. Protokolls jetzt auch entscheiden, wenn die zugrunde liegende Frage Gegenstand gefestigter Rechtsprechung des EGMR ist (well-established case-law). Nach dem Explanatory Report zum 14. Protokoll ist davon immer dann auszugehen, wenn die Kammern in vergleichbaren Fällen konsequent eine bestimmte Entscheidungspraxis zugrunde legen. Ausnahmsweise soll aber auch ein einziges Urteil ausreichend sein, insbesondere, wenn es von der Großen Kammer gefällt wurde.[23] Im konkreten Einzelfall wird der Ausschuss selbst festlegen, ob eine gefestigte Rechtsprechung vorliegt. Im Übrigen hat der Gerichtshof auch begonnen, explizite Kriterien für die Bemessung der Entschädigung nach Art. 41 EMRK festzulegen, so dass das well-established case-law-Erfordernis auch in dieser Hinsicht nicht entgegensteht. Auch für die Piloturteile (dazu noch Rn. 478) ist das neue Verfahren anwendbar.
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Das Verfahren in Fällen, in denen eine gefestigte Rechtsprechung besteht, ist gegenüber dem Verfahren in der Kammer vereinfacht und beschleunigt: Trotz der offensichtlichen Begründetheit wird die Beschwerde zwar der Regierung zugestellt, die Stellungnahme ist aber fakultativ.[24] Entscheidet sich die betroffene Regierung für eine Stellungnahme, so gleicht das Verfahren hierfür demjenigen vor der Kammer, mit dem Unterschied, dass die Stellungnahme dem Bf. nur zur Information mitgeteilt wird und er zur Erklärung über Schadensersatzansprüche aufgefordert wird, die er nach Art. 41 EMRK geltend machen will.[25]
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Andererseits kann der Ausschuss aber auch die Beschwerde einstimmig für unzulässig erklären, z.B. wenn der Vertragsstaat ihn von der fehlenden Rechtswegerschöpfung überzeugt hat (Art. 28 Abs. 1 lit. a EMRK).[26] Der Bf. selbst muss zu diesem Zeitpunkt nur seine Forderungen nach Art. 41 EMRK geltend machen.
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Für den Bf. bringt die Zuständigkeit des Ausschusses für offensichtlich begründete Beschwerden eine erhebliche Erleichterung mit sich: Er muss, vorbehaltlich der Zulässigkeit seiner Beschwerde, lediglich darstellen, dass auf den von ihm gerügten Sachverhalt eine gefestigte Rechtsprechung anwendbar ist.
b) Verfahren vor einer Kammer
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Kommt eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde durch einen Ausschuss (Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK) nicht in Betracht, so entscheidet eine Kammer über ihre Zulässigkeit und Begründetheit (Rule 53 Abs. 6).
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Der Kammer gehören für jede Rechtssache der Sektionspräsident und der für eine betroffene Vertragspartei gewählte Richter an. Ist dieser Richter nicht Mitglied der Sektion, der die Beschwerde zugeteilt wurde, so gehört er der Kammer von Amts wegen an. Ist dieser Richter verhindert oder befangen, fordert der Kammerpräsident diese Partei auf, ihm binnen 30 Tagen mitzuteilen, ob sie entweder einen anderen gewählten Richter oder, als ad hoc Richter, eine andere Person für die Mitwirkung als Richter an dem Verfahren benennen will. Antwortet die betroffene Vertragspartei nicht innerhalb dieser 30 Tage, so gilt dies als Verzicht auf eine solche Benennung (Rules 26 Abs. 1 lit. a, 29 Abs. 2 lit. a). Die anderen Mitglieder der Kammer werden vom Sektionspräsidenten im Rotationsverfahren aus dem Kreis der Mitglieder der Sektion bestimmt. Die übrigen Mitglieder der Sektion sind in der betreffenden Rechtssache Ersatzrichter (Rule 26 Abs. i lit. b, c).
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Bevor die Kammer über die Zulässigkeit entscheidet, kann sie auf Antrag der Parteien oder von Amts wegen eine mündliche Verhandlung (siehe dazu gleich noch Rn. 414) durchführen, wenn sie dies (ausnahmsweise) für notwendig erachtet. In diesem Fall werden die Parteien in der Regel aufgefordert, sich auch schon zur Begründetheit der Beschwerde zu äußern (Rule 54 Abs. 3 Satz 2).
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Die Kammer kann die Beschwerde aber auch sofort für unzulässig erklären oder im Register streichen (Rule 54 Abs. 1). Die entsprechende Entscheidung ist ebenso wie die Unzulässigkeitsentscheidung eines Ausschusses endgültig; nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen kann auch eine Kammer des Gerichtshofs das Verfahren über eine als unzulässig zurückgewiesene Beschwerde wieder aufnehmen, wenn es zu einem offenkundigen Irrtum über Tatsachen oder bei der Beurteilung von Zulässigkeitsvoraussetzungen gekommen ist.[27]
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Hält die Kammer die Beschwerde aber für zulässig, so kann sie vor ihrer Entscheidung über die Zulässigkeit (Rule 54 Abs. 2)
• | die Parteien ersuchen, Auskünfte bezüglich des Sachverhalts zu erteilen und Schriftstücke oder Unterlagen vorzulegen, die sie für zweckdienlich hält, |
Hinweis
Der Bf. sollte beim EGMR die Beiziehung von konkreten Akten(teilen) förmlich anregen, insbesondere wenn die Einsicht in diese im nationalen Verfahren verweigert worden ist.
• | die Beschwerde der beklagten Vertragspartei zur Kenntnis bringen und diese auffordern, schriftlich Stellung zu nehmen, |
• | die Parteien auffordern, weitere schriftliche Stellungnahmen abzugeben. |
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Eingehende Schriftsätze und Erklärungen des Vertragsstaates werden durch den Gerichtshof an den Bf. weitergeleitet, damit dieser seinerseits Stellung nehmen kann. Dafür hat er 6 Wochen Zeit; er muss in diesem Zeitraum auch eventuelle Schadensersatzforderungen nach Art. 41 EMRK geltend machen.[28] Die Stellungnahme erfolgt durch Schriftsätze,[29] für die eine Art „Präklusionsvorschrift“ (Rule 38) gilt,[30] die vom Gerichtshof durchweg streng interpretiert wird. Im Anschluss erhält nochmals die Regierung die Möglichkeit innerhalb von 4 Wochen auf die Stellungnahme des Bf. zu reagieren.[31]
c) Gemeinsame Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit
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Eine separate, kurz begründete Entscheidung (decision) der Kammer über die Zulässigkeit der Beschwerde erging schon vor der Neuregelung, die eine gemeinsame Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit zum Regelfall macht (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 EMRK) – abweichend von der früheren gesetzlichen Regel (Art. 29 Abs. 3 EMRK a.F.) – nur noch selten. Sie bot sich vor allem an, um den Parteien vor der abschließenden Entscheidung in der Sache die Aufnahme von Vergleichsverhandlungen zu ermöglichen (Art. 38 Abs. 1 lit. b EMRK a.F.; Rn. 365).[32] Die Zulässigkeitsentscheidung markierte den Beschwerdegegenstand, über den die Kammer anschließend in der Sache befand.[33] Dieser Verfahrensschritt war jedoch mitunter sehr zeitaufwendig, insbesondere da der Zulässigkeitsentscheid separat begründet werden muss (Art. 45 Abs. 1 EMRK), so dass man sich entschloss, die ohnehin aufgrund der Arbeitslast bereits durchgeführte Praxis der gemeinsamen Entscheidung auch zum gesetzlichen Regelfall (auch für den Ausschuss) zu machen.
d) Veröffentlichung der Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde
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Die in englischer oder französischer Sprache ergehende Entscheidung