Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2011, 3126, 3129 unter Hinweis auf EGMR Dudek v. Deutschland, Entsch. v. 23.11.2010, Nr. 12977/09, NJW 2011, 3145.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › C. Behandlung der Beschwerde durch den EGMR
C. Behandlung der Beschwerde durch den EGMR
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › C. Behandlung der Beschwerde durch den EGMR › I. Vor der Zuweisung an einen Spruchkörper
1. Registrierung der Beschwerde durch die Kanzlei[1]
260
Nach dem Eingang des ersten Schreibens, in dem der Gegenstand der Beschwerde hinreichend dargelegt wird[2], legt die Kanzlei eine Verfahrensakte unter dem Namen des Bf. an und ordnet die Beschwerde einer Nummer zu, unter der sie registriert wird (file-/application number).
261
Diese Beschwerdenummer ist bei der nachfolgenden Korrespondenz stets anzugeben (vgl. etwa § 10 lit. a PD-W und Abschnitt I PD-IM).
262
Der Bf. erhält eine postalische Bestätigung darüber, dass seine Beschwerde registriert worden ist. Wird der Bf. durch mehrere Bevollmächtigte vertreten, so erhält üblicherweise nur der an erster Stelle Genannte das förmliche Schreiben der Kanzlei.
263
Die Übersendung des Bestätigungsschreibens kann bis zu 10 Wochen in Anspruch nehmen. Anfragen bei der Kanzlei während dieses Zeitraums bleiben in der Regel erfolglos; telefonische Anfragen werden nur durch eine Telefonanlage entgegen genommen, die den Anrufer seinem Anliegen entsprechend per Tastendruck automatisch weiterleitet. Eine Kontaktaufnahme mit einem Mitarbeiter der Kanzlei und ein Gespräch über Eingang und Behandlung der Beschwerde werden üblicherweise nicht ermöglicht.
264
Es empfiehlt sich daher, die Beschwerde per Einschreiben mit Rückschein einzureichen bzw. im Falle einer Übersendung als Paket dessen Lauf per Sendungsnachverfolgung im Internet (Ausdruck und elektronische Archivierung des Sendungsverlaufsprotokolls) zu dokumentieren.
265
Das Schreiben mit der Eingangsbestätigung gibt auch das für die Einhaltung der 6-Monats-Frist wichtige „Einbringungsdatum“ der Beschwerde an (dazu Rn. 193); etwaige diesbezügliche aus dem Schreiben ersichtliche Fehler in der Erfassung der Beschwerde müssen sofort gegenüber der Kanzlei gerügt werden.
266
Dem Bestätigungsschreiben sind Strichcode-Aufkleber (mit der Beschwerdenummer und dem Fallnamen) beigefügt, die bei künftiger Korrespondenz zu verwenden sind.
267
Die bis 2002 übliche Vorprüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen durch die Kanzlei ist offiziell entfallen. Gleichwohl wird die registrierte Beschwerde zunächst einem Mitarbeiter der Kanzlei zugewiesen, der aus dem Vertragsstaat stammt, gegen den die Beschwerde erhoben worden ist. Dieser kontrolliert, ob sämtliche für die Beschwerde erforderlichen Unterlagen eingereicht worden sind. Bestehen Zweifel bezüglich einer Zulässigkeitsvoraussetzung oder fehlen Anlagen bzw. sonstige Dokumente oder Erklärungen, so fordert die Kanzlei den Bf. regelmäßig auf, seine Angaben zu ergänzen und weitere Dokumente vorzulegen (Rule 47 Abs. 5.2).[3]
268
Im Falle einer (wirksamen) Vertretung des Bf. führt die Kanzlei den Schriftverkehr ausschließlich mit dem Verfahrensbevollmächtigten (Rule 37 Abs. 1).
269
Bereits bei der frühen Korrespondenz mit dem Gerichtshof ist äußerste Sorgfalt geboten. Weil auch der Bf. einer recht weitgehenden Kooperationspflicht unterliegt (duty to cooperate; Rules 44A ff.), kann jede Verzögerung oder gar das Ausbleiben einer vom Gerichtshof geforderten Reaktion des Bf. dahingehend interpretiert werden, dass dieser kein Interesse mehr an der Aufrechterhaltung seiner Beschwerde hat (§§ 4 Satz 2, 17 PD-I). Dies wiederum kann zur Streichung der Beschwerde im Register führen (Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK; Rules 43, 44E).[4]
270
Die Kanzlei kann keinerlei Informationen über die nationale Rechtslage des beklagten Vertragsstaates erteilen, insbesondere keine Rechtsberatung im Hinblick auf die Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen Rechts gewähren.
2. Zuteilung der Beschwerde an eine bestimmte Sektion
271
Jede registrierte Individualbeschwerde wird durch den Präsidenten des EGMR einer der fünf Sektionen des Gerichtshofs zugeteilt (Rule 52 Abs. 1).
272
Eine bestimmte Reihenfolge, in der die eingehenden Beschwerden behandelt und beschieden werden, schreibt die Verfahrensordnung nicht vor. Der Gerichtshof kann allerdings jede Beschwerde vorrangig behandeln (Rule 41).[5]
273
Dabei wendet der EGMR die sog. „Priority Policy“[6] im Sinne eines Stufensystems nach Dringlichkeit an:
274
Dringende Beschwerden, bei denen es um das Leben oder die Gesundheit des Bf., das Wohl eines Kindes oder ähnlich schwerwiegende Konstellationen geht, insbesondere in denen eine Maßnahme nach Rule 39 im Raum steht (dazu Rn. 356 ff.), werden vorrangig auf erster Stufe behandelt.
275
Sonstige Fragen, die von Bedeutung für die Effektivität des Rechtsschutzsystems der Konvention sind (Pilotverfahren!), oder sonst Fragen von allgemeiner Bedeutung betreffen, stehen auf der zweiten Stufe.
276
Die dritte Kategorie bilden (sonstige, siehe Kategorie 1) Beschwerden hinsichtlich Art. 2, Art. 3, Art. 4 oder Art. 5 Abs. 1 EMRK, unabhängig davon, ob sie vor einem Ausschuss oder der Kammer zu entscheiden sind.
277
An vierter Stelle stehen alle Beschwerden im Hinblick auf andere Konventionsgarantien, wenn sie „offensichtlich begründet“ sind.
278
Schließlich folgen Fälle, die der Sache nach bereits entschieden sind (repetitive cases). Die letzten beiden Garantien bilden schließlich solche Beschwerden, die Fragen hinsichtlich der Zulässigkeit aufwerfen und schließlich solche, die offensichtlich unbegründet sind.
3.