345
Die GK kann die Sache in diesem durch die Zulässigkeitsentscheidung vorgegebenen Rahmen vollumfänglich prüfen, also auch die zugrunde liegenden Fakten,[45] sowie alle rechtlichen Feststellungen, auch die Zulässigkeitsentscheidung neu bewerten – letzteres nur dahingehend, eine von der Kammer als zulässig erklärte Beschwerde als unzulässig abzuweisen; dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus Art. 35 Abs. 4 EMRK).[46] Die GK ist in keiner Weise an eine Feststellung der Kammer gebunden.
346
Ein Verbot der reformatio in peius gibt es im Verfahren vor der GK nicht. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob die Verweisung vom Vertragsstaat oder von dem Bf. beantragt wird. Auch eine Beschränkung der Verweisung ist nicht möglich. Eine Verweisung zu beantragen, kann also auch dazu führen, dass ein bereits erzielter Erfolg wieder zunichte gemacht wird.
347
Entscheidet die GK über die Erstattung von Kosten, so betrifft diese Entscheidung das gesamte Verfahren vor dem Gerichtshof, einschließlich der Abschnitte vor ihrer Anrufung.[47]
348
Dieses Urteil ist endgültig (Art. 44 Abs. 1 EMRK). Auf das Verfahren sind die für die Kammern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden (Rule 71 Abs. 1). Auch die GK kann eine Beschwerde, die sie für unzulässig hält, zurückweisen (Art. 35 Abs. 4 EMRK).
6. Streichung der Beschwerde im Register
349
Der Gerichtshof kann eine Beschwerde jederzeit in seinem Register streichen,
• | wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Bf. seine Beschwerde nicht weiterzuverfolgen beabsichtigt (Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK)[48], |
• | die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden ist (Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK)[49] bzw. die Beschwer weggefallen ist[50] oder |
• | eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist (Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK)[51], z.B. wenn der Bf. gestorben ist und das Verfahren von seinen Erben oder Angehörigen nicht fortgeführt wird. |
350
Ein fehlendes Interesse an der Weiterverfolgung der Beschwerde hat der Gerichtshof in Fällen angenommen, in denen von Seiten des Bf. längere Zeit keine Reaktion auf Schreiben der Kanzlei erfolgt war. Üblicherweise erhält der Bf. vor der Entscheidung über die Streichung der Beschwerde einen entsprechenden schriftlichen Hinweis, sollte sich darauf aber nicht verlassen. Für einen nicht mehr tolerablen Zeitraum mangelnder Aktivität gibt es keine eindeutigen Grenzen, auch nicht in § 17 PD-I, der die Streichung bei Untätigkeit androht.
351
Umgekehrt kann der Gerichtshof trotz einer vom Bf. (ausdrücklich) erklärten Absicht, die Beschwerde nicht weiter verfolgen zu wollen, deren Prüfung fortsetzen, wenn die Achtung der in der Konvention anerkannten Menschenrechte dies erfordert (Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EMRK).[52]
352
Die Entscheidung, eine für zulässig erklärte Beschwerde im Register zu streichen, ergeht durch Urteil (Rule 43 Abs. 3 Satz 3), das dem Ministerkomitee des Europarates übermittelt wird, sobald es endgültig ist (Art. 44 Abs. 2 EMRK), damit dieser die Erfüllung der Verpflichtungen überwachen kann (Art. 46 Abs. 2 EMRK), die der beklagte Vertragsstaat als Bedingung für die Nichtweiterverfolgung der Beschwerde, die gütliche Einigung oder die Beilegung der Streitigkeit eingegangen ist (Rule 43 Abs. 3 Satz 4).
353
Gegen die Entscheidung, eine Beschwerde aus dem Register zu streichen, kann der Bf. binnen drei Monaten deren Verweisung an die GK beantragen, sofern sie als Urteil ergeht (Art. 43 Abs. 1 EMRK). Der Gerichtshof selbst kann jederzeit – d.h. auch nach Ablauf dieser 3-Monats-Frist – die Wiedereintragung der Beschwerde in das Register beschließen (restoration to the list), wenn er dies wegen außergewöhnlicher Umstände für gerechtfertigt hält (Art. 37 Abs. 2 EMRK; Rule 43 Abs. 5).
354
Hinweis
Einen – allerdings weder in der EMRK noch in den Rules of Court vorgesehenen – Antrag auf Wiedereintragung der Beschwerde (restoration to the list) sollte der Bf. unmittelbar bei der mit der Sache zuletzt befassten Kammer stellen und dabei darlegen, dass ihm kein Verstoß gegen die bei der Weiterverfolgung der erhobenen Beschwerde gebotene Sorgfalt (diligence expected) anzulasten ist.
355
Aus dem vorher Gesagten lässt sich entnehmen, dass nicht vorab für zulässig erklärte Beschwerden durch eine Entscheidung aus dem Register gestrichen werden. Damit ist eine Überwachung durch das Ministerkomitee ausgeschlossen, was in der Regel auch überflüssig erscheint. Nicht überflüssig ist die Überwachung allerdings in der Konstellation der „unilateral declarations“, also solchen einseitigen Erklärungen und Zugeständnissen des beklagten Vertragsstaats im Rahmen der Vergleichsverhandlungen (Rn. 376), die der Gerichtshof als ausreichende Anerkennung und Ausgleich des Konventionsverstoßes erachtet. Auch im Falle eines solchen gescheiterten Vergleichs streicht der Gerichtshof die Beschwerde aus dem Register. Wenn eine Zulässigkeitsentscheidung zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt ist, müsste dies in Form einer Entscheidung erfolgen. Da aber eine Sonderregel wie Art. 39 Abs. 4 EMRK fehlt, wonach das Ministerkomitee ausnahmsweise auch dazu berufen ist, die Einhaltung einer Entscheidung zu überwachen, mit der eine Beschwerde aufgrund einer solchen einseitigen Erklärung aus dem Register gestrichen wird, kann die Erfüllung des Angebots, auf dessen Grundlage die Beschwerde von der Liste gestrichen wurde, nicht überwacht werden (siehe auch noch Rn. 378). Dem Bf. bleibt dann nur, die Wiederaufnahme ins Register zu beantragen.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › C. Behandlung der Beschwerde durch den EGMR › III. Das Verfahren im Einzelnen
1. Anordnung vorläufiger Maßnahmen
356
Die beim EGMR eingelegte Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich nationaler Vollzugsakte. Um zu verhindern, dass es bis zur Entscheidung des Gerichtshofs zu einem nicht wiedergutzumachenden Rechtsverlust des Bf. kommt (z.B. durch die Vollstreckung einer Sanktion, Auslieferung, Abschiebung, Beweisverlust)[53], kann die für die Verhandlung der Beschwerde zuständige Kammer – in besonderen Eilfällen auch ihr Präsident – auf Antrag einer Partei oder anderen betroffenen Person sowie von Amts wegen den Parteien empfehlen (indicate),