369
Das gilt prinzipiell auch im späteren Verfahren, falls die Verhandlungen scheitern. Im Rahmen der Vergleichsverhandlungen geäußerte schriftliche oder mündliche Mitteilungen, Angebote oder Eingeständnisse dürfen weder im Schriftwechsel mit der Kanzlei noch im Rahmen des streitigen Verfahrens erwähnt oder geltend gemacht werden (Rule 62 Abs. 2 Satz 2, § 17 PD-W[68]).[69] Nicht ausgeschlossen ist aber, dass der betroffene Vertragsstaat – außerhalb der Vergleichsverhandlungen – eine „einseitige Erklärung“ abgibt, in der er den Konventionsverstoß anerkennt, eine seiner Ansicht nach angemessene Kompensation anbietet, um eine Streichung der Beschwerde nach Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK zu erreichen (vgl. Rn. 376) und dabei auch über das Scheitern der Vergleichsverhandlungen „referiert“ (unilateral declaration, vgl. Rn. 378).[70]
370
Ob ein Verstoß gegen die Vertraulichkeit vorliegt, hängt nicht davon ab, wie viele Einzelheiten aus den Verhandlungen zur friedlichen Streitbeilegung Dritten bekannt gegeben werden; ein derartiger (vorsätzlicher) Verstoß kann dazu führen, dass die Beschwerde als missbräuchlich eingestuft wird.[71]
371
Wenn zwischen dem in seinen Rechten verletzten Bf. und der verantwortlichen Vertragspartei eine Einigung erzielt worden ist, prüft der Gerichtshof (lediglich noch), ob ihr Inhalt als gütlich (friendly) eingestuft werden kann. Eine Fortsetzung der Prüfung der Beschwerde erfolgt jedoch dann, wenn die Achtung der Menschenrechte dies erfordert (Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EMRK), d.h. der Gerichtshof kann einen Fall, der für die Achtung der Menschenrechte wichtige Fragen grundlegender Natur betrifft (serious issues of general nature) auch gegen den Willen des Bf. weiterverfolgen, selbst wenn dieser oder sein Vertreter von einer staatlichen Wiedergutmachung und damit einem Wegfall der Opfereigenschaft durch eine gütliche Einigung ausgehen.
372
Liegt eine gütliche Einigung nach Ansicht des Gerichtshof vor und erfordern die Menschenrechte keine weitere Prüfung der Beschwerde, so kann der Gerichtshof durch Beschluss[72] entscheiden, die Rechtssache aus dem Register zu streichen (Art. 39 Abs. 4 EMRK; Rules 43 Abs. 3, 62 Abs. 3). Der Zulässigkeit einer erneuten Individualbeschwerde in derselben Sache steht dann Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK entgegen.[73]
373
Dieses Urteil kann auch eine Kostenentscheidung enthalten (award of costs), die vom Gerichtshof nach billigem Ermessen getroffen wird (Rule 43 Abs. 4). Die allgemeinen Grundsätze für die Erstattung von Kosten nach Rule 43 Abs. 4 sind wesentlich dieselben wie die nach Art. 41 EMRK. Kosten werden nur insoweit erstattet, als sie sich auf die behaupteten Verletzungen beziehen.[74] Soweit die Verteilung der entstandenen Kosten nicht bereits ein Element der zwischen den Parteien getroffenen Einigung ist, sollte der Bf. einen Antrag auf Festsetzung einer Kostenerstattung durch die beklagte Vertragspartei stellen.
374
Erst durch die Entscheidung des Gerichtshofs, die Beschwerde aus dem Register zu streichen, wird das Verfahren der Individualbeschwerde beendet. Hält sich jedoch der Vertragsstaat nicht an den Inhalt der getroffenen Einigung, deren Überwachung dem Ministerkomitee des Europarates obliegt (Art. 39 Abs. 4 EMRK; Rule 43 Abs. 3 Satz 2), kann der Gerichtshof die Wiedereintragung der Beschwerde ins Register beschließen (Art. 37 Abs. 2 EMRK; Rule 43 Abs. 5).
375
Zur Durchsetzung des Vergleichs, insbesondere der zugesagten Zahlungen vor nationalen Gerichten, siehe Rn. 381.
b) Gescheiterter Vergleich und einseitige Erklärungen (unilateral declarations)
376
Kommt zwischen den Parteien keine gütliche Einigung zustande („gescheiterter Vergleich“), so kann der Gerichtshof gleichwohl den Vorschlag des Vertragsstaats aufgreifen, den Rechtsstreit für erledigt i.S.v. Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK zu erklären, von einer weiteren Prüfung der Beschwerde absehen und deren Streichung im Register anordnen – auch dann, wenn der Bf. die Fortsetzung der Prüfung wünscht (Rule 62A Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 3).[75] Voraussetzung ist, dass der Vertragsstaat den geltend gemachten Konventionsverstoß anerkannt hat, zudem muss er ein angemessenes Vergleichsangebot unterbreitet und ggf. erklärt haben, die erforderlichen Maßnahmen zur Wiedergutmachung zu ergreifen (sog. unilateral declaration), vgl. Rule 62A Abs. 1 lit. b. Die Abgabe einer solchen einseitigen Erklärung unterliegt (anders als eine gütliche Einigung) nicht der Vertraulichkeit (Rule 62A Abs. 1 lit. c).
377
Bei der Überprüfung der Angemessenheit des (staatlichen) „Einigungs-/Vergleichsangebots“ berücksichtigt der Gerichtshof die Kriterien, die er zu der betreffenden Frage in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Die Streichung der Beschwerde aus dem Register kommt nur in Betracht, wenn die Umstände des Falles sowie eine eindeutige (und umfangreiche) Rechtsprechung zu den speziell aufgeworfenen Fragen eine weitere Prüfung der Begründetheit der Beschwerde nicht (mehr) erfordern.[76]
378
Beschließt der Gerichtshof aufgrund eines „gescheiterten Vergleichs“ die Streichung der Beschwerde aus dem Register, so stellt sich die Frage, ob der Vertragsstaat an sein bzw. das vom Gerichtshof übernommene und zugesagte Vergleichsangebot gebunden ist. Eine Überprüfung durch das Ministerkomitee erscheint regelmäßig nicht möglich, da die Streichung in der Regel in der Form einer Entscheidung ergeht, die dem Ministerkomitee grundsätzlich nicht weitergeleitet wird; eine Sonderregel wie für den Vergleich (Art. 39 Abs. 4 EMRK), wonach das Ministerkomitee ausnahmsweise auch die Durchführung des Vergleichs überwachen soll, fehlt zudem (vgl. Rn. 355, 372). Der Bf. kann aber, wenn ein einseitiges Angebot nicht in dem zugesagten Umfang erfüllt wird, beantragen, dass der Gerichtshof die Beschwerde wieder in sein Register aufnimmt (Art. 37 Abs. 2 EMRK).[77] Eine Regelung, die dem Ministerkomitee die Überwachung der Umsetzungen einseitiger Erklärungen ermöglicht, ist im Gespräch.[78]
379
Die Streichung der Beschwerde aus dem Register nach Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK nimmt dem Bf. nicht das Recht, weitergehende mit dem Konventionsverstoß verbundene oder sich später erst realisierende Rechtsverletzungen geltend zu machen (wichtig etwa bei der Verfahrensverzögerung in einem anschließenden Stadium, das nicht Gegenstand der Beschwerde war).
c) Gütliche Einigung nach Feststellung der Konventionsverletzung (Follow-up Friendly Settlements)
380
Eine gütliche Einigung ist auch dann noch möglich, wenn eine Verletzung durch den Gerichtshof bereits festgestellt wurde, wenn