357
Der Antrag auf Anordnung einer vorläufigen Maßnahme sollte möglichst schnell, nachdem die endgültige Entscheidung auf nationaler Ebene ergangen ist, gestellt werden, um dem Gerichtshof ausreichend Zeit zur Prüfung der Angelegenheit zu geben. Droht ein unmittelbarer oder gar sofortiger Vollzug der nationalen Entscheidung, wie z.B. im Falle der Ausweisung (Abschiebung) oder Auslieferung (Überstellung), so sollten der Antrag und die ihn stützenden Dokumente schon vor dem Ergehen der nationalen Entscheidung beim EGMR in Straßburg vorliegen, da der Gerichtshof keinen Bereitschaftsdienst hat und auch nicht alle Regierungen 24 Stunden am Tag zu erreichen sind, so dass die Bearbeitung des Antrags auch einen ganzen Tag in Anspruch nehmen kann. Für die Antragstellung hat der Gerichtshof eine Practice Direction (PD-IM)[55] erlassen.
358
Nach einer ersten Kontaktaufnahme mit der Kanzlei des Gerichtshofs sollte der Antrag auf Erlass einer vorläufigen Anordnung (Request for an interim measure) den Gerichtshof wegen der Dringlichkeit nicht auf dem normalen Postweg, sondern per Fax[56], oder persönlich bzw. durch einen Boten während der Bürozeiten (Montag bis Freitag, 8 bis 16.00 Uhr – Ortszeit) erreichen[57] und vorzugsweise in einer Arbeitssprache des Gerichtshofs (Englisch, Französisch) abgefasst sein.[58] Umfasst der Antrag mehr als zehn Seiten, sollte das Fax in mehreren Teilen gesendet werden, um den Empfang und die Bearbeitung zu erleichtern.[59] Eine Anfrage per E-Mail akzeptiert der Gerichtshof nicht mehr (vgl. PD-IM, Nr. II „Requests to be made by facsimile or letter“). Aus der schreib- bzw. drucktechnisch hervorgehobenen Überschrift des Antrags muss das Vorliegen eines Eilfalles – vorzugsweise durch den Zusatz Rule 39 – Urgent – hervorgehen.
359
„Rule 39 – Urgent
Person to contact (name and contact details): […]
[ In deportation or extradition cases ]
Date and time of removal and destination: […]“
360
Erfolgt vom Gerichtshof binnen kurzer Frist keine Reaktion auf den Antrag, ist eine telefonische Nachfrage bei der Kanzlei während der Bürozeiten ratsam.
361
Dem Antrag müssen sämtliche Dokumente beigefügt werden, die den vom Antragsteller behaupteten Konventionsverstoß belegen und den Erlass der begehrten vorläufigen Anordnung als notwendig erscheinen lassen, insbesondere die Entscheidungen der staatlichen Stellen und Gerichte. Ist die Individualbeschwerde bereits beim Gerichtshof eingelegt, sollte der Antrag einen Hinweis auf die Registriernummer (Aktenzeichen) enthalten, unter der das Verfahren geführt wird.
362
Insbesondere in Auslieferungs- und Ausweisungsverfahren sollten dem Gerichtshof Datum und Uhrzeit der drohenden staatlichen Vollzugshandlung (Überstellung/Abschiebung), der Aufenthaltsort des Antragstellers, ggf. der Ort seiner Inhaftierung sowie das Aktenzeichen, unter dem das nationale Verfahren geführt wird, schon im Antrag mitgeteilt werden.
363
Eine Schwäche dieses vorläufigen Rechtsschutzes ist, dass für die empfohlenen vorläufigen Maßnahmen – ebenso wie für die Urteile im Hauptverfahren – kein Vollstreckungsverfahren vorgesehen ist. Rule 39 Abs. 3 bestimmt lediglich, dass die Kammer von den Parteien – also auch vom Bf. – Informationen zur Durchführung der angeordneten vorläufigen Maßnahmen anfordern kann. Umgekehrt sieht Rule 40 die Möglichkeit vor, dass der Gerichtshof den betroffenen Vertragsstaat in dringenden Fällen über die Beschwerde informiert.[60] Gleichwohl sollten der Bf. bzw. sein Vertreter eine etwaige staatliche Nichtbeachtung der vom Gerichtshof angeordneten vorläufigen Maßnahmen gegenüber dem Gerichtshof rügen, denn der EGMR geht mittlerweile von einer Verbindlichkeit der von ihm empfohlenen vorläufigen Maßnahmen für die Vertragsstaaten aus.[61] Der Vertragsstaat, gegen den sich die Beschwerde richtet, muss daher jegliche Handlungen unterlassen, die geeignet sind, die Wirksamkeit der Entscheidung in der Hauptsache zu beeinträchtigen. Die Missachtung einer angeordneten vorläufigen Maßnahme führt zu einem Verstoß gegen Art. 34 Satz 2 EMRK, der seinerseits separat vor dem EGMR gerügt und von diesem festgestellt werden kann.[62]
364
Vorläufige Maßnahmen sind in der Regel zeitlich beschränkt. Sie können vom Gerichtshof jederzeit verlängert oder aufgehoben werden. Bestätigt das Urteil in der Hauptsache die Rechtsverletzung, ist die entsprechende Verpflichtung ab Endgültigkeit des Urteils gemäß Art. 46, 44 EMRK verbindlich. Wenn die Rechtsverletzung durch ein Kammerurteil verneint wird, bleibt die vorläufige Maßnahme jedoch regelmäßig bis zur Endgültigkeit des Urteils aufrechterhalten.[63]
a) Beendigung des Verfahrens aufgrund einer gütlichen Einigung
365
Sobald eine Beschwerde für zulässig erklärt worden ist, bemüht sich der Gerichtshof, anstelle einer streitigen Entscheidung eine gütliche Einigung auf der Grundlage der Achtung der in der Konvention anerkannten Menschenrechte zu erreichen. Zu diesem Zweck nimmt der Kanzler – nach den Weisungen der zuständigen Kammer oder ihres Präsidenten – Kontakt mit den Parteien auf. Die Kammer selbst trifft alle geeigneten Maßnahmen, um eine solche Einigung zu erleichtern (Rule 62 Abs. 1).[64] Ob eine gütliche Einigung im Einzelfall als geeignetes Mittel zur Verfahrensbeendigung erscheint, erfordert eine umfassende Abwägung; hier sollte sich der Bf. bzw. dessen Vertreter zunächst vor allem vergegenwärtigen, welches Ziel mit der Beschwerde verfolgt wird.[65]
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Obwohl Rule 62 Abs. 1 die Aufnahme von Vergleichsverhandlungen (friendly-settlement negotiations) zwischen den Verfahrensbeteiligten in Hinblick auf eine Erledigung der Beschwerde scheinbar auf den Zeitraum nach der Zulässigkeitsentscheidung des Gerichtshofs beschränkt, können die Verfahrensbeteiligten bereits in dem diesem Zeitpunkt vorgelagerten Stadium des Verfahrens die Möglichkeiten einer gütlichen Einigung ausloten, müssen hierzu allerdings selbst die Initiative ergreifen (Art. 39 Abs. 1 EMRK). Die Einschaltung des Gerichtshofs zur Anbahnung dieser Verhandlungen ist ebenfalls möglich. Insbesondere können die Parteien die Kanzlei bzw. die mit der Rechtssache (voraussichtlich) befasste Kammer um die Unterbreitung eines Vorschlags für eine gütliche Einigung bitten.[66]
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Inhalt einer gütlichen Einigung kann auf staatlicher Seite ein ausdrückliches Anerkenntnis und Bedauern des eingetretenen Konventionsverstoßes (statement of regret), eine freiwillige Geldzahlung (ex gratia payment) und/oder das Versprechen sein, zukünftigen Konventionsverstößen vorzubeugen (undertaking to adopt appropriate/necessary measures). Daneben sind noch andere Inhalte einer solchen Einigung denkbar, einen festen Katalog möglicher Absprachen gibt es nicht. Es ist daher die Aufgabe des Verteidigers, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, die für seinen Mandanten von Vorteil sind.[67] Eine Verpflichtung, das Verfahren nicht weiter zu betreiben, muss der Bf. nicht unbedingt eingehen, da der Gerichtshof den Fall ohnehin aus seinem Register streicht, wenn er der Meinung ist, dass die Einigung gütlich erfolgt ist (Art. 39 Abs. 3 EMRK; Rule 62 Abs. 3 i.V.m. Rule 43 Abs. 3).
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