169
Der Verteidiger steht häufig vor der schwierigen Entscheidung, entweder seinem Mandanten einen zeitraubenden und mitunter kostspieligen Weg durch die nationalen Instanzen zuzumuten, um anschließend sicher den Weg nach Straßburg zu finden, oder aber sich mehr oder weniger direkt an den EGMR zu wenden, um dann allerdings Gefahr zu laufen, dort eine unterbliebene Rechtswegerschöpfung vorgehalten zu bekommen. Das mit einer direkten Beschwerde zum EGMR verbundene Risiko sollte nur dann eingegangen werden, wenn der an sich statthafte Rechtsbehelf aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung (consistent case-law) offensichtlich aussichtslos ist.[156]
170
In der Beschwerdeschrift sind die auf nationaler Ebene eingelegten Rechtsbehelfe zu benennen und durch Kopien der ergangenen Entscheidungen zu belegen (Rule 47 Abs. 3.1 lit. a). Erhebt der Verfahrensbevollmächtigte[157] des beklagten Vertragsstaates die Einwendung der Nichterschöpfung des nationalen Rechtsschutzes (objection of non-exhaustion), so muss er in diesem Zusammenhang die Existenz und allgemeine Effektivität des angeblich nicht beachteten Rechtsbehelfs darlegen.[158] Kommt der Vertragsstaat diesen Anforderungen nach, so hat grundsätzlich der Bf. plausibel darzulegen, dass er im konkreten Fall diesen Rechtsbehelf entweder erschöpft oder von ihm keinen Gebrauch gemacht hat, da er für ihn unzugänglich, unangemessen oder nicht effektiv war.[159]
171
Hinweis
Das vom Gerichtshof zur Verfügung gestellte Beschwerdeformular sieht unter Nr. 63 die Angabe von Rechtsbehelfen vor, die der Beschwerde hätten abhelfen können, vom Bf. aber als nicht effektiv angesehen wurden. Solche „präventiven“ Angaben sollten nur erfolgen, wenn der Vertragsstaat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Einwendung eines nicht erschöpften nationalen Rechtsschutzes erheben wird („keine schlafenden Hunde wecken“).
Andererseits kann das „Verschweigen“ der Nichterschöpfung eines (offensichtlich) effektiven Rechtsbehelfs vom Gerichtshof auch als Missbrauch des Beschwerderechts interpretiert werden (Unzulässigkeit der Beschwerde – Art. 35 Abs. 3 EMRK).
b) Horizontale Erschöpfung
172
Zur Erschöpfung des nationalen Rechtsschutzes gehört ferner, dass der Bf. – ebenfalls unter Beachtung der nationalen Form-, Frist- und Präklusionsvorschriften – den Rechtsgrund des behaupteten Konventionsverstoßes gegenüber den nationalen Kontrollinstanzen sinngemäß, d.h. der Sache nach geltend macht und das nationale Verfahren sachdienlich betreibt (horizontale Erschöpfung). Die Rügen, mit denen später der Gerichtshof befasst werden soll, müssen zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Anrufung der zuständigen innerstaatlichen Gerichte gewesen sein.[160] Nicht erforderlich ist eine unmittelbare Bezugnahme auf die EMRK oder gar die Subsumtion des Sachverhaltes unter die einschlägige Vorschrift der EMRK, sie ist jedoch zweckmäßig, weil es den Nachweis erleichtert, dass der Rechtsbehelf der Sache nach auch die Verletzung eines in der Konvention geschützten Rechtes betraf.[161] Die Berufung auf ein in seinem Schutzumfang mit dem Konventionsrecht übereinstimmendes innerstaatliches Recht genügt aber grundsätzlich.[162]
173
Beschwerden, mit denen der Gerichtshof später befasst werden soll, müssen auf nationaler Ebene stets in gehöriger Weise, d.h. unter Einhaltung der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Form- und Fristerfordernisse bei den zuständigen staatlichen Stellen vorgebracht werden.[163] Dabei hat der Bf. sämtliche im nationalen Recht für die Einlegung des Rechtsbehelfs erforderlichen (zumutbaren) Bedingungen zu erfüllen (z.B. Leistung eines Vorschusses für die Verfahrenskosten[164]). Auf eine reine Wiederholung seiner Rügen darf sich der Betroffene nicht beschränken, sondern muss diese dem Prüfungsmaßstab von Rechtsbehelfen anpassen; vor dem BVerfG sind spezifisch verfassungsrechtliche Ausführungen erforderlich („specific constitutional law arguments“).[165]
174
Der Rechtsbehelf muss ernsthaft unter Angabe aller ihn tragenden Gründe[166] verfolgt werden. Eine Haftbeschwerde, die nur formell erhoben, materiell aber nicht begründet wird, hat der EGMR als zur Erschöpfung des Rechtswegs nicht ausreichend angesehen.[167]
175
Wird ein nationaler Rechtsbehelf wegen eines Verstoßes gegen eine Form-, Frist- oder sonstige Verfahrensvorschrift als unzulässig verworfen, so bewertet der EGMR dies als eine Nichterschöpfung des nationalen Rechtswegs, es sei denn, dass die Zurückweisung des nationalen Rechtsbehelfs willkürlich bzw. ihrerseits konventionswidrig erscheint[168] oder die nationale Stelle trotz des Zulässigkeitsmangels – zumindest teilweise – eine Prüfung in der Sache vorgenommen hat (examined the substance of the appeal)[169].
176
Aus deutscher Sicht bemerkenswert ist, dass der EGMR im Urteil Uhl die Anforderungen an die inhaltliche Substantiierung einer Verfassungsbeschwerde als zu hoch eingestuft hat (§ 93a BVerfGG).[170] Zur Anhörungsrüge Rn. 152.
177
Hinweis
Der EGMR kann bei der Entscheidung über die Begründetheit einer Beschwerde zusätzliche Informationen und (auch) ein neues Vorbringen berücksichtigen (additional information and fresh arguments), wenn er dieses für entscheidungserheblich erachtet. Dazu zählen sowohl tatsächliche Angaben als auch rechtliche Ausführungen zu dem Sachverhalt, der den für zulässig erklärten Rügen zugrunde liegt.[171] Einen Anspruch auf Berücksichtigung eines nachträglichen Vorbringens hat der Bf. freilich nicht, kann dies jedoch gegenüber der Kammer anregen, indem er dessen Entscheidungserheblichkeit näher darlegt.
Das nachträgliche Vorbringen völlig neuer Sachverhaltsmerkmale (new factual elements), die in der Zulässigkeitsentscheidung keinerlei Grundlage haben, ist ausgeschlossen.[172]
178
Bei einer fortdauernden oder wiederholten Verletzung ist eine wiederholte Einlegung des gleichen Rechtsbehelfs nicht notwendig, wenn dies wegen der unveränderten Umstände nur zu einer Wiederholung der bereits früher ergangenen Entscheidung führen würde. Hat sich die zugrunde liegende Situation aber verändert, ist die erneute Einlegung des Rechtsmittels zu empfehlen.[173] Der Antrag auf Haftprüfung (§ 117 StPO) bzw. die Haftbeschwerde sind bei Fortdauer der Untersuchungshaft wiederholt einzulegen; allerdings muss der Beschuldigte nicht jede die Haft verlängernde Entscheidung auf diese Weise überprüfen lassen.[174]
2. Zeitpunkt
179
Für die Erschöpfung des nationalen Rechtsschutzes kommt es grundsätzlich auf den Zeitpunkt an, zu dem die Beschwerde beim Gerichtshof eingeht (date of introduction of the application).
180
Unter bestimmten Voraussetzungen verlangt der EGMR vom Bf. sogar die Erschöpfung eines vom Vertragsstaat erst nach der Einlegung der Individualbeschwerde geschaffenen Rechtsbehelfs, mit dessen Hilfe der behauptete Konventionsverstoß auf nationaler Ebene effektiv geltend gemacht werden kann.[175]
181
Der Gerichtshof hat die Möglichkeit, den betroffenen Staat in einem Piloturteil (Rn. 478) zur Einrichtung einer Rechtsschutzmöglichkeit