103
Auch Personengruppen sind parteifähig. Sie sind in der Regel nicht organisierte, meist gemeinsame Interessen verfolgende Gruppierungen ohne eigene Rechtsfähigkeit. Bei ihrer Parteifähigkeit geht es letztlich vielmehr um die Tatsache, dass eine Gruppe von Personen, die vom selben konventionswidrigen Sachverhalt betroffen sind, eine Sammelklage einreichen bzw. die Beschwerden bündeln kann.[54]
104
Nichtstaatliche Organisationen und Personengruppen[55] können die Verletzung eines in der Konvention niedergelegten Rechtes geltend machen, wenn und solange[56] dieses Recht seinem Wesen nach auf sie anwendbar ist.[57] Nach dieser Maßgabe parteifähig sind juristische Personen des Privatrechts (Verein, AG, GmbH) und Personengesellschaften (OHG, KG), unabhängig von ihrer inneren Organisation oder ihrem Sitz.[58] Auch privatrechtlich organisierte Kirchen sind „nichtstaatliche Organisationen“.[59]
105
Auf die Rechtsfähigkeit nach nationalem Recht kommt es nicht an;[60] selbst nach der Auflösung bleiben diese nichtstaatlichen Organisationen parteifähig,[61] da sonst die Vertragsstaaten die Beschwerdeberechtigung beeinflussen könnten.
106
Nicht parteifähig sind dagegen alle staatlichen Stellen, Organisationen, (Gebiets-)Körperschaften, Anstalten, sonstige hoheitlich Tätige (Beliehene) sowie juristische Personen des öffentlichen Rechts, auch wenn sie in privatrechtlichen Organisations- und Handlungsformen agieren.[62] Entscheidendes Kriterium ist dabei, ob die in Frage stehende Organisation öffentliche Gewalt ausübt. Das sei insb. dann der Fall, wenn sie den Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung Rechnung tragen soll, die Mitglieder durch allgemeine Wahlen bestellt werden und sie sich aus dem allgemeinen Haushalt durch Zuweisungen finanziert. Bestimmte Befugnisse einer Organisation sprechen für ihren öffentlich-rechtlichen Charakter, etwa das Recht, Enteignungen vorzunehmen, Verordnungen zu erlassen oder Verstöße gegen Normen zu sanktionieren.[63]
107
Ausnahmen bestehen für solche Einrichtungen, die dem Staat zwar organisatorisch zugeordnet sind, aber diesem in einem bestimmten grundrechtlich geschützten Bereich, dessen Verwirklichung sie dienen, wie Private gegenüber stehen, wie etwa Rundfunkanstalten, Kirchen oder Universitäten,[64] nicht aber dagegen Gemeinden.[65] Strafprozessual relevant kann diese Frage insbesondere bei der Durchsuchung von Räumlichkeiten (Redaktionen, Rundfunkanstalten) und der Beschlagnahme von Gegenständen werden.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › III. Prozess-/Verfahrensfähigkeit des Beschwerdeführers
III. Prozess-/Verfahrensfähigkeit des Beschwerdeführers
108
Weder die EMRK noch die Rules of Court stellen formal besondere Anforderungen an die Fähigkeit des Bf., selbst Verfahrenshandlungen vornehmen zu können. Minderjährige, psychisch Kranke bzw. unter Betreuung stehende Personen können sich daher entweder selbst oder mit Hilfe ihrer Eltern oder ihres Betreuers die Beschwerde führend an den Gerichtshof wenden bzw. sich durch einen Verfahrensbevollmächtigten vertreten lassen.[66] Es kommt insoweit auch nicht auf das Sorgerecht an.[67]
109
Als Bf. im Beschwerdeformular (s.u.) sollte grundsätzlich immer die unmittelbar betroffene Person genannt werden. Nur unter ganz engen Voraussetzungen kann der Vertreter einer „nicht-prozessfähigen“ Person selbst als Bf. auftreten (Problem der unmittelbaren Betroffenheit (Rn. 125).
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › IV. Postulationsfähigkeit (Vertretung – locus standi)
IV. Postulationsfähigkeit (Vertretung – locus standi)
110
Für das Verfahren vor dem EGMR besteht kein allgemeiner Anwaltszwang.[68] Parteifähige Personen oder Personengruppen können die Beschwerde daher selbst oder durch einen (gewählten) Vertreter (representative) einreichen, wobei es in diesem Stadium des Verfahrens keinerlei Vorgaben oder Einschränkungen hinsichtlich der als Vertreter in Betracht kommenden Personen gibt (Rule 36 Abs. 1).
111
Im späteren Verfahren – d.h. nach der Zustellung der Beschwerde an den Vertragsstaat (Rule 54 Abs. 2 lit. b) bzw. in der mündlichen Verhandlung – ist die Vertretung des Bf. regelmäßig obligatorisch (Rule 36 Abs. 2 u. 3; vgl. Rn. 390.
112
Die Vertretung ist gegenüber dem Gerichtshof (spätestens) in der offiziellen Beschwerdeschrift durch eine vom Bf. und vom Bevollmächtigten persönlich zu unterzeichnende Vollmacht oder Erklärung (power of attorney/authority to act)[69] anzuzeigen (Rule 45 Abs. 3). Kann diese nicht beigebracht werden (z.B. wegen der Inhaftierung des Bf.), so lässt der Gerichtshof die Beschwerde nur zu, wenn die als Vertreter auftretende Person den Vertretungswillen des Bf. plausibel darlegt. Regelmäßig zugelassen werden nahe Angehörige und Familienmitglieder.
113
Hinweis
Im Falle einer wirksamen Vertretung führt die Kanzlei den Schriftverkehr ausschließlich mit dem Bevollmächtigten des Bf. (Rule 37 Abs. 1).
114
Vertreter von juristischen Personen oder Personengruppen müssen dem Gerichtshof ebenfalls einen Nachweis über ihre Vertretungsbefugnis vorlegen.
115
Ausnahmsweise kann auch eine nach nationalem Recht nicht vertretungsberechtigte bzw. nicht vom Bf. zu seiner Vertretung autorisierte Person vor dem Gerichtshof im Namen einer anderen Person auftreten, wenn ansonsten die Gefahr besteht, dass dem EGMR die Interessen dieser Person nicht zur Kenntnis gebracht werden und der Bf. einen Status (standing) – gemeint ist eine besondere persönliche oder sachliche Nähe – zur Geltendmachung dieser Interessen besitzt.[70]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › V. Beschwerdebefugnis (Opfereigenschaft)
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