143
Stirbt der Bf. während des Verfahrens, d.h. nach der Registrierung der Beschwerde, so können sein (gesetzlicher) Erbe oder ein (naher) Verwandter (close relative)[107] bzw. der Ehegatte das Verfahren fortsetzen, wenn diese Personen ein berechtigtes Interesse am Fortgang des Verfahrens haben.[108] Abgelehnt hingegen wurde die Fortführung des vor dem EGMR anhängigen Verfahrens durch einen mit dem verstorbenen Bf. nicht verwandten Vermächtnisnehmer (universal legatee).[109]
144
Der Wille zur Aufrechterhaltung der Beschwerde muss gegenüber dem Gerichtshof eindeutig erklärt werden. Ein Verfahrensbevollmächtigter sollte mit den Angehörigen seines verstorbenen Mandanten Kontakt aufnehmen, um deren Willen zur Fortsetzung des Verfahrens zu eruieren, und ggf. durch eine neue Vollmacht oder ein anderes diesen Willen zum Ausdruck bringendes Dokuments gegenüber der Kanzlei des Gerichtshofs dokumentieren.[110]
145
Ist eine Person bereits vor Einreichung der Beschwerde verstorben, kann unter den eben genannten Voraussetzungen eine Beschwerde durch eine Person, die ein berechtigtes Interesse an dem Verfahren hat, sogar noch eingeleitet werden (siehe schon Rn. 102, 142).[111] Bei Beschwerden, die erst nach dem Tod des Opfers eingereicht werden, soll es aber zudem darauf ankommen, ob es sich bei dem Beschwerdegegenstand um eine Sache von Allgemeininteresse handelt, z.B. weil eine bestimmte Gesetzeslage oder das Rechtssystem als Ganzes in Frage steht.[112]
146
Davon strikt zu unterscheiden ist die Konstellation, dass die nächsten Angehörigen von Personen, die unter Umständen verstorben sind, selbst als Bf. auftreten können, um etwa Fragen nach Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK aufwerfen zu können (vgl. Rn. 121).
147
Der Gerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde auch dann fortsetzen, wenn kein Erbe oder Angehöriger des verstorbenen Bf. ein Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens anzeigt. Voraussetzung ist allerdings, dass die Beschwerde losgelöst vom speziellen Fall eine Angelegenheit betrifft, die für die Herausbildung allgemeiner Standards im internationalen Menschenrechtsschutz von besonderem Interesse ist.[113]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › VI. Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe
VI. Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe
148
Um dem Vertragsstaat die Behebung einer Konventionsverletzung auf nationaler Ebene zu ermöglichen, kann sich der Gerichtshof mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller dem Bf. auf nationaler Ebene (tatsächlich und effektiv) zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe befassen (Art. 35 Abs. 1 EMRK); denn im Sinne der Subsidiarität internationaler Kontrollverfahren sollen zunächst die sachnäheren nationalen Stellen und Behörden Gelegenheit haben, der behaupteten Rechtsverletzung abzuhelfen.[114] Der Grundsatz der Subsidiarität wird künftig nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK (CETS 213) auch in der Präambel der Konvention namentliche Erwähnung finden. Auf diese Weise bleibt die Funktion des EGMR auf eine Kontrolle des nationalen Rechtsschutzes beschränkt (vgl. Art. 13 EMRK).
a) Vertikale Erschöpfung
149
Neben förmlichen Rechtsmitteln muss der Bf. sämtliche für ihn zugängliche Rechtsbehelfe einlegen, die hinreichend geeignet sind, dem behaupteten Konventionsverstoß abzuhelfen und die der Betroffene selbst initiieren kann (vertikale Erschöpfung). Dies gilt grundsätzlich auch, wenn eine Kontrollinstanz nur eine (auf Rechtsfragen) beschränkte Prüfungsbefugnis hat[115] oder wenn für ein bestimmtes Rechtsmittel erst die Annahme erforderlich ist (vgl. § 313 StPO) bzw. sogar beantragt werden muss und diese unsicher ist.[116]
150
Wendet sich der Bf. gegen ein staatliches Handeln oder einen staatlich herbeigeführten Zustand, so muss er auch solche Rechtsbehelfe einlegen, mit deren Hilfe zwar nicht die diesem Handeln oder Zustand zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände, zumindest aber deren rechtliche Voraussetzungen durch eine Vorinstanz beurteilt werden können.[117]
151
Zu den zu erschöpfenden Rechtsbehelfen im deutschen Strafverfahrensrecht gehören – je nachdem, ob sich die Beschwerde gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme, einen bestimmten Verfahrensgang oder den Abschluss des Verfahrens als solches richtet – die klassischen Rechtsmittel der Beschwerde, Berufung und Revision (§§ 304, 310, 311, 312, 333, 335 StPO), sonstige förmliche Rechtsbehelfe (Einspruch gegen Strafbefehl, § 410 StPO; Antrag auf gerichtliche Entscheidung, u.a. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO ggf. mit der Möglichkeit der Beschwerde; Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand), die Gegenvorstellung[118] bzw. der Antrag auf Gewährung nachträglichen Gehörs (§§ 33a, 311a, 356a StPO)[119], spezielle Rechtsbehelfe, wie z.B. die Haftprüfung (§ 117 StPO) oder ein Befangenheits-/Ablehnungsantrag (§§ 24, 74 StPO), Beweisanträge sowie sonstige informelle Anträge und Anfragen,[120] z.B. (wiederholte) Anträge auf Akteneinsicht/Zugang zur Verfahrensakte[121], soweit diese effektive Abhilfe versprechen, wie auch alle Zwischenrechtsbehelfe (namentlich § 238 Abs. 2 StPO) [122] und sonstige (effektive) Widerspruchsmöglichkeiten.[123]
152
Setzt sich das Strafgericht überhaupt nicht mit der vorgetragenen fallrelevanten Rüge der Verletzung der EMRK und der einschlägigen Judikatur des EGMR auseinander, ist die Erhebung einer Anhörungsrüge ratsam – andernfalls riskiert der Betroffene, dass seine spätere Verfassungsbeschwerde wegen Subsidiarität als unzulässig abgewiesen wird.[124] Dem Bf. bleibt ansonsten lediglich die Möglichkeit, sich (nach Abweisung der Verfassungsbeschwerde) an den EGMR zu wenden und in seiner Beschwerdeschrift gerade diesen Missstand zu rügen.[125]
153
Sieht das nationale Recht verschiedene Rechtsbehelfe vor, hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob alle (neben- oder nacheinander) beschritten werden müssen. Kann eine Abhilfe der Konventionsverletzung über unabhängig nebeneinander bestehende Rechtsbehelfe erreicht werden, wird es in der Regel genügen, wenn derjenige gewählt und bis zur letzten Instanz verfolgt wird, der die größte Effektivität verspricht. Neben diesem braucht ein Rechtsbehelf, der im konkreten Fall kaum bessere Erfolgsaussichten hat, nicht zusätzlich ergriffen werden.[126]
154
Nach erfolglosem Durchlaufen der Fachgerichtsbarkeit ist Verfassungsbeschwerde zum BVerfG einzulegen, auch wenn deren Annahme ungewiss ist (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; § 93a BVerfGG).[127] Dass der EGMR die Verfassungsbeschwerde in außerstrafrechtlichem Kontext (zur Verfahrensbeschleunigung) als nicht-effektiven