155
Ob eine Landesverfassungsgerichtsbarkeit vor dem Gang zum EGMR angerufen werden muss, ist dagegen noch nicht eindeutig geklärt.[131]
156
Eine Strafanzeige (ggf. mit anschließendem Klageerzwingungsverfahren) kann ebenfalls ein wirksamer Rechtsbehelf gegen ein sowohl strafbares als auch konventionswidriges Verhalten sein, wenn der Ausgang des Strafverfahrens dem behaupteten Konventionsverstoß abhelfen kann.
157
Eine Klage vor den Verwaltungs- oder Zivilgerichten ist (nur dann) erforderlich, wenn mit ihrer Hilfe der geltend gemachte Konventionsverstoß beseitigt werden kann, z.B. weil die Überprüfung einer speziellen strafprozessualen Fragestellung diesen Gerichten ausdrücklich zugewiesen ist (z.B. Kontrolle von Sperrerklärungen analog § 96 StPO).
158
Die Erhebung einer Klage auf Schadensersatz bzw. Entschädigung wurde vom Gerichtshof in Fällen, welche die Rechtswidrigkeit einer Freiheitsentziehung iSv Art. 5 Abs. 1 EMRK betrafen, als zu erschöpfender Rechtsbehelf angesehen; die Frage wird aber selbst in der Straßburger Judikatur uneinheitlich beantwortet.[132] Es hängt letztlich vom Rechtsschutzziel des Betroffenen ab, ob eine Schadensersatzklage den Konventionsverstoß beheben kann.
159
Nach der gesetzlichen Regelung der Verfahrensabsprache (v.a.) in § 257c StPO ist zu erwarten, dass der EGMR auch ein Hinwirken auf eine solche Absprache als möglichen Rechtsbehelf interpretiert, wenn sich aufgrund einer solchen Absprache der behauptete Verfahrensmangel beheben lässt.
160
Bei einer überlangen Verfahrensdauer müssen zunächst die Rechtsbehelfe ergriffen werden, die das jeweilige nationale Recht innerstaatlich zur Abhilfe (Beschleunigung; § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG; Verzögerungsrüge) oder Kompensation vorsieht (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG; zur Effektivität eines Rechtsbehelfs im Zusammenhang mit einer überlangen Verfahrensdauer siehe noch Rn. 163 ff.).[133] Nach Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtliche Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011[134] gilt dies auch für bereits (auf nationaler Ebene oder auch vor dem EGMR) anhängige Verfahren (siehe zum Zeitpunkt der Beurteilung der Rechtswegerschöpfung Rn. 46).
161
Übergehen – d.h. direkt Beschwerde beim EGMR einlegen – darf der Bf. nur solche Rechtsbehelfe, die für ihn nicht zugänglich oder ineffektiv sind, d.h. keine realistischen Erfolgsaussichten oder selbst im Falle eines Erfolges keine Beseitigung (redress) bzw. Wiedergutmachung des geltend gemachten Konventionsverstoßes versprechen (z.B. weil sie gegenüber den staatlichen Stellen nicht durchsetzbar sind)[135], sich in der bloßen Feststellung des Fehlverhaltens staatlicher Stellen erschöpfen[136], eine unabhängige und unparteiliche Überprüfung des behaupteten Konventionsverstoßes nicht erwarten lassen[137] oder dem Bf. in seiner speziellen Situation (z.B. mangels aufschiebender Wirkung gegen eine drohende hoheitliche Maßnahme) nicht zumutbar sind. Auch Rechtsbehelfe, bei denen im Zeitpunkt, in dem sie einzulegen gewesen wären, nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung keinerlei Aussicht auf Erfolg bestand, müssen nicht erschöpft werden.[138] Die Anforderungen des EGMR sind regelmäßig streng.[139]
162
Art. 35 Abs. 1 EMRK verlangt auch nicht, innerstaatliche Rechtsbehelfe zu ergreifen, die dem Betroffenen bei Berücksichtigung seiner Lage nicht zumutbar sind. Ein Rechtsbehelf ist jedenfalls dann unzumutbar, wenn der Betroffene Repressalien zu fürchten hat.[140] Unzumutbar kann (ausnahmsweise und im Einzelfall) auch ein Rechtsmittel sein, wenn bei der Einstellung des Verfahrens automatisch eine Gebühr anfällt.[141]
163
Ineffektiv kann ein Rechtsbehelf auch bei unvertretbar langer Verfahrensdauer sein; dem Betroffenen ist ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zuzumuten, die innerstaatliche Entscheidung abzuwarten. Der EGMR fühlt sich nicht gehindert, über die Dauer eines Verfahrens zu entscheiden, das innerstaatlich noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.[142] Grundsätzlich ist aber auch bei lang andauernden Verfahren der Instanzenzug zu durchlaufen.
164
Ein Rechtbehelf im Zusammenhang mit einer unangemessenen Verfahrensdauer ist nur dann effektiv i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK, wenn durch ihn entweder das Verfahren beschleunigt oder dem Betroffenen Wiedergutmachung für die bereits eingetretene Verzögerung geleistet werden kann.[143] In Strafverfahren kann die Reduzierung der Strafe oder die Einstellung des Verfahrens ein mögliches Mittel zur Abhilfe bzw. Wiedergutmachung sein.[144]
165
Der Bf. muss eine Verzögerung des Strafverfahrens sowohl in der ersten Instanz (spätestens im Schlussvortrag zur Strafzumessung) und im Rahmen aller ihm zur Verfügung stehenden (effektiven) Rechtsbehelfe geltend machen.[145] Berufung, Revision und die Verfassungsbeschwerde stellen wirksame Rechtsbehelfe dar, mit denen einer behaupteten Verfahrensverzögerung abgeholfen werden kann, da mit ihrer Hilfe eine Kompensation im Wege der sog. Vollstreckungslösung oder eine Verfahrenseinstellung bewirkt werden kann.[146]
166
Da auch eine Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen zu den Maßnahmen gehört, mit denen eine unangemessene Verzögerung im Strafverfahren kompensiert werden kann, ist der Bf. gehalten, auf die seiner Ansicht nach vorliegende Verfahrensverzögerung hinzuweisen und auf eine Einstellung des Verfahrens (§§ 153, 153a StPO) hinzuwirken – vor und nach Anklageerhebung.[147] Andererseits kann die Zustimmung des Bf. zu einer Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO dazu führen, dass er auf effektive Rechtsbehelfe (Antrag auf Reduktion der Strafe im Urteil; Rechtsmittel) i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK verzichtet, seine spätere Beschwerde zum EGMR also unzulässig wird.[148]
167
Gesuche, die keinen Rechtsanspruch des Betroffenen auf Prüfung in der Sache und keinen Anspruch auf Abhilfe durch die angerufene Stelle auslösen, wie etwa Dienstaufsichtsbeschwerden gegen abgeschlossene Eingriffe,[149] die Anrufung eines Ombudsmanns[150] oder Bürger-/Menschenrechtsbeauftragten, Gnaden- oder Amnestiegesuche oder Petitionen an ein Parlament, Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder, müssen nicht gestellt werden.[151] Nicht zum vorrangigen nationalen Rechtsschutz i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK zählt auch der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens[152] – es sei denn, dass die fehlerhafte Umsetzung eines gegen Deutschland ausgesprochenen Urteils des EGMR geltend gemacht wird. Diesen Rechtsbehelfen bzw. Beschwerdemöglichkeiten fehlt die von Art. 35 Abs. 1 EMRK geforderte Effektivität.
168
Bloße Zweifel am Erfolg eines Rechtsbehelfs[153] können dagegen den Verzicht auf seine Einlegung ebenso wenig rechtfertigen wie ein mit der Einlegung verbundenes (angemessenes) Kostenrisiko.[154] Bleibt ein effektiver Rechtsbehelf erfolglos, muss der Bf. keinen weiteren