182
Steht die endgültige innerstaatliche Entscheidung noch aus, ist eine bereits vorher erhobene Beschwerde zum EGMR grundsätzlich verfrüht und daher unzulässig. Der EGMR lässt es ausnahmsweise genügen, dass die Entscheidung erst kurz nach Einlegung der Beschwerde, spätestens aber bei Entscheidung über deren Zulässigkeit vorliegt.[178]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › VII. Frist
VII. Frist
183
Die Beschwerde muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung bzw. der Beendigung des Eingriffs (dazu sogleich noch, vgl. Rn. 184) erhoben werden (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Diese 6-Monats-Frist dient nicht nur den Interessen des beklagten Staates (eine einmal ergangene staatliche Entscheidung kann vom Betroffenen nicht zeitlich unbegrenzt in Frage gestellt werden), sondern liegt auch im Interesse der Rechtssicherheit allgemein. Auch die Einhaltung der Beschwerdefrist überprüft der Gerichtshof daher von sich aus – also unabhängig davon, ob der betroffene Vertragsstaat eine entsprechende Rüge erhoben hat oder auf die Einhaltung dieser Frist verzichtet.[179] Zu beachten ist, dass diese Frist nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK (CETS 213) künftig von sechs auf vier Monate verkürzt wird.
1. Fristbeginn
184
Da der Bf. zuvor den nationalen Rechtsschutz erschöpft haben muss, beginnt die Frist in der Regel mit dem Tag, an dem die endgültige und vollständige innerstaatliche Entscheidung über das beschwerende Ereignis ergeht. Wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung auf nationaler Ebene ist dies in der Regel – aber nicht notwendigerweise die Entscheidung eines Rechtsmittel- bzw. Verfassungsgerichts.[180] Dass die Verfassungsbeschwerde keinen effektiven Rechtsbehelf zur Rüge einer überlangen Verfahrensdauer im Zivilprozess darstellt, muss inzwischen bekannt sein, so dass ihre Einlegung die Frist nicht mehr hemmt. Strittig ist allerdings, wann die Frist zu laufen beginnt, wenn der Bf. neben der Länge des zivilgerichtlichen Verfahrens auch noch andere Punkte vor dem BVerfG rügen möchte.[181]
185
Unwirksame Rechtsbehelfe – wie z.B. Petitionen, Amnestie- oder Gnadengesuche (s.o.) – bleiben bei der Festlegung des Fristbeginns außer Betracht. Durch sie kann der Bf. weder den Beginn der Beschwerdefrist zu seinen Gunsten verschieben noch eine „verfristete“ Beschwerde heilen.[182] Das gleiche gilt für die (zweckwidrige) Einlegung eines offensichtlich unzulässigen oder zur Abhilfe der Konventionsverletzung völlig ungeeigneten, also offenkundig ineffektiven innerstaatlichen Rechtbehelfs.[183] Ist jedoch zweifelhaft, ob ein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Abhilfe der Konventionsverletzung geeignet ist, kann dem Betroffenen nicht angelastet werden, dass er zunächst die innerstaatliche Bereinigung des Konventionsverstoßes versucht hat. Auch wenn dieser Rechtsbehelf als unzulässig abgewiesen wird, beginnt ausnahmsweise die Frist erst mit dessen Erledigung, allerdings nur, wenn dessen völlige Ineffektivität für den Betroffenen nicht bereits vorher ersichtlich war.[184] Es kann auch gegen die zu diesem Zeitpunkt letzte nationale Entscheidung innerhalb der 6-Monats-Frist Beschwerde eingelegt und parallel der (zweifelhafte) nationale Rechtsweg erschöpft werden. Auf diese Vorgehensweise sollte der EGMR hingewiesen werden. Der Gerichtshof lässt die Beschwerde dann i.d.R. ruhen, bis der nationale Rechtsweg erschöpft ist.[185]
186
Sieht das nationale Recht eine Zustellung oder eine andere Art der förmlichen Bekanntgabe der (letztinstanzlichen) Entscheidung gegenüber dem Bf. vor, so beginnt der Lauf der Frist nicht schon mit der Verkündung der Entscheidung, sondern erst mit deren Zugang beim Bf. oder seinem Rechtsvertreter.[186] Wird die Entscheidung beiden zugestellt, so kommt es auf den (früheren) Zeitpunkt der Zustellung beim Rechtsvertreter an; zumindest ist aus Vorsichtsgründen zu raten, von dem früheren Datum auszugehen.[187]
187
In deutschen Fällen geht der EGMR von dem Datum des Zugangs der BVerfG-Entscheidung aus (siehe auch § 30 Abs. 3 BVerfGG).[188]
188
Ist gegen das beschwerende staatliche Handeln kein (effektiver) Rechtsbehelf statthaft, so beginnt die Frist von dem Tag an zu laufen, an dem sich die staatliche Maßnahme ereignet und beendet wird (date of the act)[189] bzw. an dem die betroffene Person von ihm tatsächlich Kenntnis erlangt oder hätte erlangen müssen.[190] Wird dem Bf. später klar bzw. hätte ihm später klar werden müssen, dass ein von ihm eingelegtes Rechtsmittel nicht geeignet ist, um die Maßnahme anzugreifen, so neigt der EGMR dazu, für den Fristbeginn auf diesen (späteren) Zeitpunkt der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens abzustellen.[191]
189
Bei einem konventionswidrigen Dauerzustand beginnt die Einlegungsfrist erst mit dessen Beendigung.[192] Vorgänge, die bereits sechs Monate vor der Einlegung der Beschwerde beendet waren, berücksichtigt der EGMR dann aber nicht. Bei einer Entscheidung über die Dauer der Untersuchungshaft lässt der EGMR die 6-Monats-Frist mit dem Ende der Untersuchungshaft beginnen.[193] Bei Abschiebungen kommt es nicht etwa auf das Ergehen der Ausweisungsverfügung, sondern auf den Vollzug der Abschiebung an.[194]
190
Der Tag, an dem der Bf. vom beschwerenden Ereignis Kenntnis erlangt bzw. an dem die endgültige Entscheidung über den beschwerenden Akt er- bzw. ihm zugeht, werden nicht auf den Lauf der Frist angerechnet (Ereignisfrist).[195]
191
Der Beginn der Frist kann gehemmt sein, wenn der Bf. für die eingetretene Verzögerung eine ausreichende Erklärung liefert, etwa die Behinderung durch Gefängnisbehörden. Eine nur vorübergehende Verhinderung ist unbeachtlich, wenn dem Bf. danach noch ausreichend Zeit bleibt, die Frist zu wahren. Ein schlechter Gesundheitszustand stellt i.d.R. keine ausreichende Erklärung dar.[196]
192
Macht der Staat geltend, dass die Beschwerde verspätet eingelegt worden sei, so hat er den (vermeintlich früheren) Zeitpunkt des Zugangs bzw. der Kenntniserlangung darzulegen.[197] Legt hingegen der Bf. den Zeitpunkt des Zugangs bzw. der Kenntniserlangung nicht näher dar, nimmt der EGMR an, dass der Bf. an dem Tag Kenntnis erlangte, an dem die letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung erging.[198]
2. Fristende
193
Für die Einhaltung der 6-Monats-Frist kommt es weder auf das Datum der Beschwerde noch auf den Eingang der Beschwerde bei der Kanzlei des Gerichtshofs, sondern auf die Absendung bzw. Aufgabe der Beschwerde (date of dispatch of the document) an,[199] deren Datum durch leserlichen Poststempel oder durch eine Urkunde nachzuweisen ist.[200] Etwaige Fristverlängerungen, die für die Einlegung von Rechtsbehelfen