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Die Zuständigkeit ratione temporis wird vom EGMR zudem insofern „weich“ interpretiert, als er bereits mehrfach auf das „Fortdauern“ eines vor dem Inkrafttreten der Konvention eingetretenen Ereignisses und seiner Folgen abgestellt und so die zeitliche Anwendbarkeit der Konvention auf den gerügten Sachverhalt insgesamt bejaht hat.[33] Dies kommt allerdings nur bei einem – und sei es nur im Hinblick auf die Folgen – fortwährenden bzw. dauerhaften Eingriff in die Rechte des Betroffenen (continuing situation), nicht aber bei einem zeitlich abgeschlossenen, momentanen Eingriff (single instantaneous act) in Betracht, dessen Wirkungen nur fortdauern, wie etwa der Eigentumsentzug bei einer vollzogenen Enteignung.[34] In der durch einen vor dem Beitritt erfolgten Eingriff geschaffenen Rechtslage wird keine neue Konventionsverletzung gesehen. Kommen dagegen nach dem Inkrafttreten einer Konventionsverbürgung neue, auch ihrerseits selbst konventionswidrige Handlungen hinzu, sind diese an der Konvention zu messen.[35]
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Dauert eine Konventionsverletzung nach dem Inkrafttreten von EMRK oder ZP in dem betreffenden Staat noch an, erstreckt sich die Überprüfung des Gerichtshofs nur auf die nach diesem Zeitpunkt liegenden Vorgänge.[36]
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Bei Ausscheiden eines Staates aus der Konvention (Kündigung) fallen nur die Vorgänge, die vor dem Wirksamwerden des Ausscheidens liegen, unter den Schutzbereich der Konvention (Art. 58 Abs. 2 EMRK).
4. Örtliche Anwendbarkeit der EMRK (ratione loci)
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Die örtliche Anwendbarkeit der Konvention ist wichtig für die Bestimmung des richtigen Beschwerdegegners. Gemäß Art. 1 EMRK sichert jeder Vertragsstaat allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die im Ersten Abschnitt der Konvention (Art. 2-18 EMRK) genannten Rechte und Freiheiten zu. Daher können sich alle Personen, auch Ausländer und Staatenlose, die sich auf dem Territorium eines Vertragsstaates befinden, diesem Staat gegenüber auf die Einhaltung der EMRK berufen.[37]
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Nach den Regeln des internationalen Völkerrechts ist ein Staat unter bestimmten Voraussetzungen außerdem auch für die extraterritoriale Ausübung von Hoheitsgewalt (jurisdiction) i.S.v. Art. 1 EMRK verantwortlich.[38] Zwar findet eine solche extraterritoriale Hoheitsgewalt eines Staates ihre völkerrechtlichen Grenzen in den souveränen Hoheitsrechten der anderen Staaten. Sie kann jedoch auch und gerade bei völkerrechtswidrigem Handeln staatlicher Organe im Ausland in Betracht kommen.[39]
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Bei militärischen Aktionen auf dem Territorium eines anderen Staates nimmt der EGMR eine Verantwortlichkeit des militärisch handelnden Staates und die Jurisdiktion i.S.v. Art. 1 EMRK an, wenn dessen Organe (Streitkräfte) eine effektive Kontrolle über das fremde Hoheitsgebiet ausüben.[40] Sind an dem militärischen Vorgehen mehrere Staaten beteiligt, muss der Bf. die einzelnen Verantwortlichkeiten, d.h. die Rolle und Arbeits-/Machtverteilung der einzelnen Staaten sowie die Kommandostrukturen beschreiben, insbesondere wenn an dem Militäreinsatz nicht an die Grundsätze der EMRK gebundene Staaten, wie z.B. die USA, beteiligt sind.[41]
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Zurechenbares extraterritoriales Handeln kann auch eine diplomatische oder konsularische Tätigkeit betreffen oder an Bord eines Flugzeugs oder Schiffes geschehen, das unter diesem Staat registriert ist.[42]
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Aus Sicht der Strafverteidigung stellt sich das Problem extraterritorialen Handelns insbesondere bei der internationalen Rechtshilfe, wenn es konkret um die Frage geht, ob wegen einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme im Ausland gegen den ersuchenden oder den ersuchten Staat Beschwerde zu erheben ist. Beschwerdegegner ist hier grundsätzlich der ersuchte (handelnde) Vollstreckungsstaat. Nur unter bestimmten Voraussetzungen kommt zusätzlich auch der ersuchende Staat als Beschwerdegegner in Betracht.[43]
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Die BR Deutschland ist daher für sämtliche Rechtshilfemaßnahmen verantwortlich, die sich durch ihre Organe oder durch ausländische Amtsträger – mit ihrer Duldung – auf ihrem Territorium ereignen. Umgekehrt lässt sich aber hinsichtlich einer im Ausland für deutsche Stellen geleisteten Rechtshilfe eine Verantwortlichkeit Deutschlands nicht schon allein mit der Veranlassung der Maßnahme durch die Stellung eines Rechtshilfeersuchens im Inland begründen.[44] Eine Verantwortlichkeit für Rechtshilfemaßnahmen im Ausland ist nur dann anzunehmen, wenn die Maßnahme vom deutschen Territorium aus effektiv kontrolliert wird. Daher lässt sich etwa im Falle einer grenzüberschreitenden Zeugeneinvernahme (per Video- oder Telefonkonferenz), Nacheile oder Telefonüberwachung sowie beim Einsatz gemeinsamer Ermittlungsgruppen durchaus von einer extraterritorial ausgeübten deutschen Hoheitsgewalt sprechen.[45]
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Unabhängig von der Frage einer staatlichen Verantwortlichkeit für die Rechtshilfehandlung im Ausland ist (regelmäßig) in dem Ersuchen um Rechtshilfe die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage im ersuchenden Staat zu sehen, so dass dem Beschuldigten (jedenfalls) dort ab diesem Zeitpunkt die Beschuldigtenrechte des Art. 6 EMRK zu gewähren sind.[46]
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Nicht um einen Fall extraterritorialer Hoheitsgewalt handelt es sich bei der Auslieferung bzw. Ausweisung von Tatverdächtigen bzw. Straftätern. Hier überprüft der EGMR zwar die dem Betroffenen im Ausland drohenden Folgen bzw. das zu erwartende Strafverfahren am Maßstab der Behandlungsverbote (Art. 3 EMRK) und der Verfahrensfairness (Art. 6 EMRK). Um die Verantwortlichkeit des ausliefernden bzw. abschiebenden Staates feststellen zu können (Art. 1 EMRK), knüpft er dabei aber an die Handlung an, die sich auf dessen Territorium vollzieht.[47] Der die Auslieferung bzw. Ausweisung ersuchende Staat ist wiederum nur für die auf seinem Territorium stattfindenden staatlichen Maßnahmen verantwortlich; eine im Ausland aufgrund eines Auslieferungsersuchens erfolgte Freiheitsentziehung ist dem ersuchenden Staat daher grds. nicht zurechenbar.[48]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › II. Parteifähigkeit des Beschwerdeführers
II. Parteifähigkeit des Beschwerdeführers
101
Der von jedem Vertragsstaat zu gewährleistende persönliche Schutzbereich der durch die EMRK verbürgten Menschenrechte erstreckt sich auf alle natürlichen oder juristischen Personen, nichtstaatlichen Organisationen (NGO)[49] oder Personenvereinigungen/-gruppen, die – wenigstens zum Zeitpunkt der behaupteten Verletzung – seiner Herrschaftsgewalt unterstehen, also nicht nur auf eigene Staatsangehörige sondern auch auf Ausländer und Staatenlose (Art. 1 EMRK). Der Gerichtshof kann daher von jeder Person (unabhängig vom Alter[50] oder ihrer Geschäftsfähigkeit[51]), die der Hoheitsgewalt des Staates unterliegt, gegen den sich die Beschwerde richtet, im Wege der Individualbeschwerde angerufen werden (Art. 34 EMRK).
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Einschränkungen